Ich weiß nicht, wie ich vom Prätorium nach Hause gekommen bin. In mir tobte ein Chaos. Wie immer es weiterging, es würde schrecklich sein. Und doch begehrte alles in mir gegen dies Ende auf! Ein Ende, an dem ich auf eine unheimliche Weise mitbeteiligt war. Ein Ende, das ich nicht gewollt hatte. Und trotzdem hatte Pilatus gesagt: »Es ist deine Idee! Eine gute Idee!« Ich hörte seine Stimme in mir und zuckte zusammen, als wäre jedes Wort ein Peitschenschlag.
Die Häuser wankten vor meinen Augen. Ihre dunklen Türen starrten mich feindlich an. Überall hörte ich Menschen zischeln, deren Stimmen aus meinem Innern aufbrachen: Da läuft er, der Verräter, der sich zutraute, die Römer zu überlisten! Jetzt sitzt er in der Falle. Jetzt hat ihn seine List erreicht. Nichts hat er erreicht! Wie immer die Entscheidung ausfiel, ich fühlte mich mitschuldig am Tode dessen, den das Los treffen sollte. Obwohl ich mir immer wieder sagte: Du hast sie nicht verraten. Du hast sie nicht inhaftieren lassen. Du hast dich für alle eingesetzt. Du wolltest, daß alle amnestiert werden. Du bist unschuldig.
War ich wirklich unschuldig? Hatte Pilatus vielleicht am Anfang unseres Gesprächs beide freilassen wollen, Jesus und Barabbas? War ihm nicht erst während unseres Gesprächs aufgegangen, daß hier eine Alternative vorliegt?
Zweifellos: Ich war daran beteiligt, daß es zu dieser Entscheidung zwischen Jesus und Barabbas kommen sollte. War ich auch schuld daran? Nein, schrie ich auf, nein! Alles in mir rebellierte. Ich bin unschuldig. Ich bin unschuldig! Immer wieder sagte ich es zu mir. Ich bin unschuldig! Aber sobald meine eigene Stimme verklang, tauchten andere Stimmen in meinem Innern auf und zischelten: Du bist schuld! Ich konnte sie nicht ersticken. Es war ein qualvoller Heimweg.
Zu Hause angekommen, schickte ich Malchos, um mir über den weiteren Verlauf der Dinge berichten zu lassen. Er solle sich in der Nähe des Prätoriums aufhalten und mir mitteilen, wie die Entscheidung ausfiel. Ich fühlte mich zu schwach, um alles mitzuerleben.
Es vergingen bange Stunden. Endlich kam Malchos mit der Nachricht: Barabbas wurde auf Verlangen des Volkes freigelassen und ist sofort untergetaucht. Den Jesus haben sie vor der Stadt gekreuzigt. Zusammen mit zwei anderen Zeloten.
Die Entscheidung war gefallen. Ich wurde etwas ruhiger. Ich fühlte mich stark genug, um zum Stadtrand zu gehen. Ich wollte Jesus wenigstens von ferne sehen. Immer war ich in Galiläa auf seinen Spuren gewesen. Nie hatte ich ihn getroffen. Jetzt erst sollte ich ihm begegnen: einem als Verbrecher hingerichteten Menschen. Timon und Malchos begleiteten mich auf dem Weg.
Von der zweiten Stadtmauer aus konnten wir den Hinrichtungsort sehen. Drei Kreuze standen da. Drei gefolterte und geschundene Menschen hingen an ihnen – in Todesangst und Todesschmerzen. Die Leute flüsterten sich zu: Der eine ist schon tot. Die Römer haben ihn hingerichtet, weil sie fürchteten, er könne der Messias sein.
Ich schaute von fern auf das Kreuz, an dem Jesus hing. Es war das Kreuz in der Mitte. Links und rechts von ihm hingen die beiden verurteilten Zeloten. Vielleicht waren es zwei der jungen Leute, die wir in den Höhlen von Arbela getroffen hatten? Vielleicht jene zwei, die uns aus der Höhle hinausgeführt hatten. Wer weiß? Über ihnen stand die sinkende Sonne. Sie breitete ihren Glanz über das Kreuz Jesu und das der Zeloten, über den Toten und die beiden Sterbenden. Sie warf ihr Licht über die römischen Soldaten und die Zuschauer, die teils neugierig, teils entsetzt die Ereignisse verfolgten.
Wir standen im Schatten des Galiläers. Wir spürten: Diese Menschen waren keine Verbrecher. Wir hatten die Zeloten kennengelernt. Wir hatten von Jesus gehört. Malchos sagte: Wenn die Sonne sehen und fühlen könnte wie wir, sie müßte vor Trauer dunkel werden. Wenn die Erde empfinden könnte, sie müßte vor Zorn beben.
Aber die Sonne verdunkelte sich nicht. Die Erde blieb ruhig. Es war ein normaler Tag. Nur in mir war es dunkel. Nur in mir bebten die Fundamente des Lebens. Nur in mir zischelten die Stimmen: Du bist schuld! Du bist schuld! Die Stimmen wurden immer lauter. Immer drängender. Ich verlor die Kraft, ihnen zu widerstehen. Sie schrien jede Gegenstimme nieder. Mir wurde schwindlig. Dann verlor ich das Bewußtsein.
Timon und Malchos trugen mich nach Hause. Später erzählten sie mir, ich hätte im Fieber drei Tage und Nächte lang vor mich hingedämmert. Manchmal hätte ich von einem Tier phantasiert, das mich bedrohte. Ich hätte geschrien und mich unruhig hin und her gewälzt.
Selbst hatte ich nur verworrene Erinnerungen an meinen Zustand. Immer wieder gingen quälende Szenen durch meinen Kopf. Immer wieder sah ich die drei Gekreuzigten vor mir. Ihre Schmerzen waren meine Angst. Als ich ruhiger geworden war, formulierten sich in mir zusammenhanglose Sätze zu Gebeten. Ich klagte:241
Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?
Warum bist du so stumm?
Warum so fern?
Tag und Nacht rufe ich um Hilfe!
Doch du bist unerbittlich.
Ich weiß, unsere Vorfahren wurden errettet.
Aber auch das ist wie tote Erinnerung in mir.
Ich bin kaum ein Mensch noch.
Ein Tier bin ich, ein Wurm, ein Nichts.
Alles macht sich über mich lustig!
Alles triumphiert über meine Niederlage.
Viele Feinde umzingeln mich.
Kreisen mich ein.
Tiermäuler drohen mich an.
Ich bin in ihrer Gewalt.
Ich löse mich auf.
Meine Knochen fallen auseinander.
Mein Herz schmerzt,
meine Kehle ist ausgedörrt,
die Zunge klebt am Gaumen.
Ich liege im Staub,
als wäre ich tot.
Von allen Seiten umstellt,
seh ich keinen Ausweg.
Doch du gabst mir den Auftrag zum Leben.
Ohne dich kann ich keinen Atemzug tun.
Sei nah,
denn niemand hilft mir!
Drei Tage lang schwebte ich zwischen Leben und Tod. Aber nach drei Tagen und Nächten wurde ich ruhiger. Die Entscheidung war für das Leben gefallen. Sie war ohne mein Zutun gefallen. Es brauchte noch lange, bis ich sie akzeptieren konnte. Noch lange zerrissen mich die Bilder der letzten Ereignisse. Immer wieder quälte sich meine Phantasie durch alles hindurch. Ein Schatten lag auf meinem Leben. Nachts schrie ich noch oft auf, wenn Angstträume von einem unheimlichen Tier durch meine verstörte Seele jagten.
Lieber Herr Kratzinger,
Ihre Stellungnahme zum letzten Kapitel haben Sie mit persönlichen Worten verbunden, die mich sehr bewegt haben. Auch Sie haben einmal rebelliert, als in den 50er Jahren die Wiederbewaffnung unseres Landes diskutiert wurde. Damals haben Sie mit der Bergpredigt in der Hand politische Entscheidungen begründet. Heute sind Sie gegenüber solchen Versuchen skeptisch. Sie teilen die Skepsis des Pilatus gegenüber den Argumenten des Andreas. Auch Sie haben erlebt, wie Ihre Hoffnungen gekreuzigt wurden.