Darum war es ihm also gegangen bei seiner Wasserleitung. Er wollte sein Ansehen verbessern. Das war gründlich mißlungen. Sollte ich nun helfen, erfolgreicher Propaganda für ihn zu treiben? Die Erregung, die sich einen Moment lang in seine Stimme eingeschlichen hatte, war wie weggeblasen, als Pilatus fortfuhr:
»Das Ganze war ein Rückschlag. Aber trotz solcher Rückschläge müssen wir weiterhin alles tun, um diesem Land den Frieden zu erhalten. Es gibt Chancen dafür. Meine Zuversicht basiert auf zwei Überlegungen:
Einmal auf den bewährten Prinzipien römischer Politik im Umgang mit unterworfenen Völkern. Wir betrachten es als Geheimnis unseres Erfolges, daß wir Feindschaft in Freundschaft verwandeln können. Denn wen hat das römische Volk zu treueren Bundesgenossen als die, die seine hartnäckigsten Feinde waren? Was wäre heute das Reich, wenn nicht Weitblick Besiegte mit Siegern verschmolzen hätte? 15 Die Juden aber waren nicht immer unsere Feinde. Im Gegenteiclass="underline" Als unsere Bundesgenossen habt ihr euch von der Herrschaft syrischer Könige befreit! 16 Mit unserer Unterstützung gelang es euch damals, eure eigene Religion und Kultur zu wahren. Erst später, als eure Nachbarn uns um Schutz vor euren militärischen Übergriffen baten, kamt ihr unter unsere Herrschaft – gerade rechtzeitig, daß wir einen drohenden Bürgerkrieg verhindern konnten, der euer Land in tiefes Elend gestürzt hätte. 17 Aber auch in dieser Situation haben wir eure Religion unangetastet gelassen! Unsere Politik wird auch weiterhin sein: Respekt vor eurer Religion, eurem Gott, euren Bräuchen, euren Empfindlichkeiten. Wir respektieren auch das, was uns fremd ist. Wir erwarten nur, daß auch ihr respektiert, was uns heilig ist, daß ihr die Ehrfurcht, die unsere Soldaten für den Kaiser haben, achtet und jedem Menschen zubilligt, überall seine Götter verehren zu dürfen. Respekt muß auf Gegenseitigkeit basieren.
Und nun meine zweite Überlegung. Aus Gesprächen mit euren führenden Priestern weiß ich, daß auch ihr grundsätzlich unsere Herrschaft akzeptiert. Gott hat schon lange zugelassen, daß andere Völker über euch regieren: Ihr habt Babylonier, Perser und Griechen ertragen – warum nicht auch die Römer, die gegenüber unterworfenen Völkern weit entgegenkommender sind als alle Weltreiche vorher? Ihr sagt: Alles, was geschieht, ist von dem einen und einzigen Gott, der in Jerusalem verehrt wird, verfügt.« – Er machte eine Pause, als wollte er mir Zeit zum Nachdenken lassen. – »Dann müßt ihr auch zugeben: Er hat gewollt, daß wir Römer unser Weltreich aufgebaut haben. Er hat gewollt, daß ihr die Unabhängigkeit, die ihr mit unserer Hilfe gegen die Syrer erkämpft habt, durch uns verloren habt. 18 Es gibt keinen Grund, warum das jüdische Volk uns nicht als Beherrscher der Welt akzeptieren kann – zumal wir Verständnis dafür haben, daß ihr anders als alle anderen Völker im Osten den Kaiser nicht als Gott verehren könnt.
Grundsätzlich dürfte es also keine Probleme geben. Aber im Konkreten haben wir große Schwierigkeiten. Vor allem folgende Schwierigkeit: Was eure führenden Priester uns sagen, ist nicht das, was das Volk bewegt. Zur Zeit scheint sich in eurer Religion viel zu verändern. Es gärt im Volk. Immer wieder tauchen neue Ideen und Bewegungen auf. Propheten und Prediger ziehen durchs Land. Es ist für uns schwer, sich in diese neuen Bewegungen einzufühlen. Euren führenden Priestern geht es nicht viel besser. Sie haben in einigen Kreisen der Bevölkerung die geistige Führung verloren. Eben von diesen Kreisen hängt aber die Stabilität des Landes ab. Wir brauchen Informationen über sie. Wir sind bereit, so weit es geht, ihre religiösen Gefühle zu respektieren und unnötige Ärgernisse auszuräumen. Aber dazu müssen wir wissen, was im Volk vor sich geht. Experten für das offizielle Judentum haben wir genug. Wir brauchen jemand, der das Ohr näher am Boden hat. Nur dann können wir durch zusätzliche Informationen Konflikte entschärfen, noch ehe sie ins Rollen kommen.«
»Aber warum soll gerade ich der rechte Mann dazu sein!«
»Du bist gebildet. Du sprichst unsere Sprache und ihre Sprache. Du kennst dich in religiösen Fragen des Judentums aus und in unserer Religion. Du stammst aus einer den Römern gegenüber wohlwollend eingestellten Familie. Du bist kein Fanatiker. Du bist für den Frieden. Daß ihr in einem Nebenzimmer einen kleinen Götzen stehen habt, macht euch direkt sympathisch. Ich habe schon lange den Auftrag gegeben, nach so jemandem wie dir zu suchen. Du bist der richtige Mann!«
»Aber ich will nicht!«
Ich wollte wirklich nicht. Es wäre ein unerträgliches Doppelspiel. Wie sollte ich das auf einen Nenner bringen: Meine Freundschaft zu Barabbas und meine Arbeit für die Römer! Wie leicht konnte ich mich zwischen alle Stühle setzen. Pilatus aber sagte ruhig:
»Bedenke: Etwas bleibt immer hängen. Auch wenn du freigesprochen wirst. Ich brauch nur in Cäsarea zu erzählen, du seist verdächtig, Beziehungen zu Terroristen zu haben. Das wird deinem Geschäft nicht gerade nutzen. Es wäre dein Ruin. Und der Ruin deines Vaters.«
Also doch Erpressung! Ich merkte, wie in mir ein tiefes Gefühl der Verachtung hochkam. Bei diesen Mächtigen war alles Taktik. Alles berechnend. Ihre wirklichen Gefühle und Einstellungen blieben verborgen. Sicher war nur, daß sie ihre Macht erhalten wollten! Ob Pilatus meine Gedanken erriet? Er setzte noch einmal an:
»Finde in diesem Land mal jemanden, der ohne Erpressung etwas für uns tut! Du hältst mich jetzt wahrscheinlich für einen ganz schrecklichen Menschen, so wie mich andere für einen Unmenschen halten. Vor kurzem hörte ich, was man unter den Juden in Alexandrien über meine Amtsführung erzählt; sie sei eine Kette von Bestechungen, Gewalttaten, Räubereien, Mißhandlungen, Beleidigungen, Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, fortwährender unerträglicher Grausamkeit. 19 Ich gebe zu: Im Sinne des Friedens bin ich zu vielem bereit. Aber so ein Unmensch bin ich nicht!«
Er grinste. Wahrscheinlich merkte er selbst, daß seine Worte nicht besonders überzeugend wirkten. Doch vielleicht war auch das Taktik. Ich versuchte, Zeit zu gewinnen:
»Wie soll ich Zugang zu all diesen religiösen Bewegungen finden?« Ich durfte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, daß ich schon Kontakte zu ihnen besaß.
»Keine Sorge. Du bleibst noch eine Weile im Gefängnis. Du wirst gut behandelt. Es soll dir an nichts fehlen. Wir sorgen dann dafür, daß überall durchsickert: Die Römer halten einen jungen Mann gefangen, der durch Standhaftigkeit und Treue gegenüber der jüdischen Religion hervorsticht. Ihm geht es schlecht. Trotzdem macht er keinen Hehl daraus, daß die Römer zu Unrecht in diesem Land sind, das allein Gott gehört. Kurzum: Wir verschaffen dir einen Heiligenschein. Dann entlassen wir dich. Alle frommen Kreise werden dir vertrauen. Du sollst lediglich im Lande umherreisen und einen Bericht über die religiöse Stimmung im Volke schreiben. Dabei interessiert uns alles, was die politische Stabilität im Lande gefährden könnte, alles was unsere Herrschaft in Frage stellt. Mein Beamter Metilius, den du schon kennengelernt hast, wird dir deine Aufgabe erläutern. Er versorgt dich mit den Informationen, die wir zur Zeit schon besitzen. Einverstanden?«
»Ich möchte es mir noch einmal überlegen.«
»Gut! Überlege dir die Sache. Bis morgen. Und denk daran: Entgegen anderslautenden Gerüchten bin ich kein Unmensch.«
Wieder erschien ein Grinsen auf seinem Gesicht. War das Gespräch beendet? Nein, Pilatus wandte sich noch einmal an mich: