Выбрать главу

Natürlich haben Sie recht: Kein Verteidigungsminister kann einem Angreifer zusichern, er werde nicht zurückschlagen. Der Finanzminister darf nicht nur Schätze im Himmel sammeln. Der Wirtschaftsminister sollte sich Lilien und Vögel nicht zum Vorbild nehmen. Kein Justizminister kann die Gerichte abschaffen. Sind die Forderungen der Bergpredigt also nur für den persönlichen Bereich? Sollen wir im Spiegel ihrer radikalen Forderungen gar nur unsere Unvollkommenheit erkennen?

Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß sie indirekt unser politisches Handeln bestimmen sollten: Eine Gesellschaft soll so eingerichtet werden, daß in ihr das Experiment radikaler Nachfolge möglich ist. Eine Gesellschaft ist erst dann human, wenn auch der, der auf Anklagen und Prozesse verzichtet, nicht verloren ist. Sie ist erst human, wenn sie demonstrative Liebe zu Feinden erlaubt. Sie ist human, wenn sie sorglos existierende Außenseiter erhält. Politisches Handeln kann sich die Bergpredigt nicht direkt zur Richtschnur nehmen, aber sie kann für Verhältnisse sorgen, in denen sich einzelne und Gruppen nach dieser Richtschnur orientieren können.

Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Ich meine nicht, daß irgendwo in der Gesellschaft auch eine entlegene Nische für die Bergpredigt reserviert werden sollte als »ethischer Naturschutzpark«. Vielmehr sollte die Struktur der ganzen Gesellschaft so beschaffen sein, daß das Experiment radikaler Nachfolge möglich wird. Dann können Nachfolgegruppen Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft haben und »Licht der Welt«, »Salz der Erde« sein.

Vielleicht verwerfen Sie den Traum Ihrer rebellischen Zeit nicht ganz.

 

Herzlich

Ihr

Gerd Theißen

 

PS: Bisher waren die fiktive Rahmenhandlung und die Geschichte Jesu getrennt. In den letzten beiden Kapiteln greifen sie ineinander über. Daher sei betont: Was über die Motive des Pilatus zur Freilassung von Barabbas oder Jesus gesagt wird, gehört zur Dichtung, nicht zur historischen Realität.

17. KAPITEL

Wer war schuld?

Ich blieb noch drei Tage lang in Jerusalem. Und da weder Metilius noch Pilatus nach mir schickten, betrachtete ich meinen Auftrag als erledigt. Ich hütete mich, von mir aus noch einmal das Prätorium zu betreten. Vielleicht konnte ich mich unbemerkt aus der Affäre ziehen.

Ich war froh, wieder normalen Geschäften nachgehen zu können. So reiste ich als Getreide- und Olivenhändler durchs Land und fand Ablenkung bei meinen täglichen Verhandlungen, Käufen und Verkäufen. Befreiung von meinen inneren Spannungen fand ich nicht. Es lag ein lähmender Druck auf meinem Leben. Ich füllte die Stunden mit ermüdender Betriebsamkeit.

Als ich wieder einmal in Cäsarea war, besuchte ich dort den Synagogengottesdienst – und traf zu meiner Bestürzung Metilius. Ich wollte mich verbergen. Aber er hatte mich schon gesehen. Zu meinem Erstaunen schien er das Schema mitzusprechen. Wenigstens bewegten sich seine Lippen, als wir das Glaubensbekenntnis aller Juden zum einen und einzigen Gott sprachen.242

»Höre, Israel, der Herr unser Gott ist ein Gott. Und du sollst dem Herrn, deinem Gott, dienen von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.«

Metilius hörte andächtig zu, als im zweiten Teil des Gottesdienstes die Thora vorgelesen wurde, ein Abschnitt aus den fünf Büchern Mose, denen eine Vorlesung aus den Propheten folgte. Und ebenso aufmerksam folgte er der kurzen Ansprache des Predigers. War Metilius ein Gottesfürchtiger? Oder gar Proselyt?243 Oder war er als Spion hier? Wollte er nur Kontakte zu Juden bekommen? Mir war unheimlich, daß der Leiter der römischen Spionage in einer jüdischen Synagoge am Gottesdienst teilnahm.

Nach dem Gottesdienst begrüßte er mich freundlich. Er lud mich in sein Haus ein – privat, wie er sagte. Er habe vor kurzem erfahren, daß er zur Legio VI Ferrata, der »gehamischten Legion«, nach Antiochien versetzt worden sei und freue sich, von mir Abschied nehmen zu können.

Ich war noch immer mißtrauisch: All das konnte ein Trick sein, um Vertrauen zu wecken. Natürlich würde jeder geneigt sein, einem Offizier, der bald nicht mehr im Land war, mehr zu erzählen als anderen. Ich nahm mir vor, vorsichtig zu sein, folgte aber gern seiner Einladung, nicht zuletzt in der Hoffnung, Genaueres über die Gründe für die Verurteilung Jesu zu hören.

Das Haus des Metilius lag nicht weit vom Hafen Cäsareas entfernt, den Herodes hatte ausbauen lassen. Wir hatten einen wunderbaren Blick auf Stadt und Meer.244 Die Einfahrt des Hafens lag nach Norden, denn der Nordwind war an dieser Stelle der angenehmste. An der Einfahrt befanden sich auf jeder Seite drei überlebensgroße Standbilder, aufgebaut auf Säulen. Die an den Hafen angrenzenden Häuser waren aus weißem Stein, und die Straßen der Stadt liefen auf den Hafen zu, im gleichen Abstand zueinander angelegt. Der Hafeneinfahrt gegenüber stand auf einem Hügel ein durch Schönheit und Größe ausgezeichneter Tempel des Kaisers. Darin befand sich eine gewaltige Bildsäule des Kaisers Augustus, die ihrem Vorbild, dem Zeus in Olympia, in nichts nachstand, und eine zweite Bildsäule der Göttin Rom. Weil Herodes die Stadt zu Ehren des Kaisers gebaut hatte, hatte er sie Cäsarea genannt.

Es war ein schöner Blick. Wie überhaupt Cäsarea eine schöne Stadt war: mit Amphitheater, Theater und Marktplätzen. Hier konnten sich die Römer wie zu Hause fühlen.

Metilius ließ durch seinen Sklaven Früchte bringen. Wir aßen und unterhielten uns. Ich fragte:

»Du besuchst unsere Synagogengottesdienste?«

»Warum nicht? Ich versteh inzwischen etwas Hebräisch und Aramäisch.«

»Machst du es, um unsere Religion kennenzulernen – gewissermaßen studienhalber?«

Ich nahm eine Dattel. Sie schmeckte angenehm süß. Metilius nickte.

»So hat es begonnen. Ich mußte mich beruflich mit eurem Glauben beschäftigen. Ich habe die heiligen Schriften gelesen. Manches hat mich stark angesprochen. Vor allem der Glaube an den einen Gott. Er ist uns nicht unbekannt. Einer unserer Philosophen wies mich auf einen Griechen Xenophanes hin, der etwa zur Zeit der etruskischen Königsherrschaft über Rom gelebt hat; schon der soll gesagt haben: ›Es ist nur ein Gott, unter Göttern und Menschen der Größte, weder an Gestalt den Sterblichen gleich noch an Gedanken.‹245 Eure Schriften sind da noch radikaler. So las ich in der letzten Hälfte des Jesajabuches ein Orakel eures Gottes, das sagt: Ich bin der Herr, und keiner sonst, außer mir ist kein Gott.246 Xenophanes sprach immerhin von Göttern.«

»Willst du Jude werden?« fragte ich ihn provozierend.

»Das nicht gerade«, antwortete er. »Ich könnte ja kaum noch meinen Soldatenberuf ausüben. Wie soll ich den Sabbat halten, wenn die Truppe am Sabbat Dienst hat? Wie soll ich mich den Opfern entziehen?247 Ich werde hin und wieder eure Synagogen besuchen und werde nur das von euch übernehmen, was mir einleuchtet: den Glauben an den einen Gott. Aber auch da habe ich Schwierigkeiten!« Er zögerte und fuhr dann fort: »Darf ich dich etwas fragen? Vielleicht habe ich bald niemanden, mit dem ich mich über eure Religion unterhalten kann!«

»Natürlich«, sagte ich und fügte lächelnd hinzu: »Aber ich bin nicht der beste Gesprächspartner. Ohne theologische Ausbildung und aus einer Familie, die zu Hause ein Götzenbild versteckt!«

»Macht nichts!« beruhigte Metilius. »Vielleicht verstehst du um so besser mein Problem. Aus der stoischen Philosophie habe ich gelernt, daß alle Dinge von göttlicher Vernunft durchdrungen sind. Sie ist überall zu spüren: in der Ordnung der Natur, in der Wiederkehr von Tag und Nacht, im Kreisen der Gestirne. Wir Stoiker nennen diese Vernunft Gott. Das ist ein Gott, den man erfahren kann. Aber ihr sprecht davon, daß Gott die Welt einmal aus dem Nichts geschaffen hat! Wie soll man das glauben können? Niemand konnte bei der Schöpfung anwesend sein! Niemand kann ihr Zeuge sein! Niemand kann für sie so zeugen wie für die allgegenwärtige Vernunft.«