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»Jeden Augenblick bist du Zeuge für die Schöpfung: So allgegenwärtig erfahrbar wie die Vernunft in den Dingen ist auch ihre Schöpfung aus Nichts!«

»Das verstehe ich nicht.«

»Es ist deshalb so schwer zu beschreiben, weil es so naheliegt – so nahe, daß man es nicht mehr wahrnehmen kann. Denn es umfaßt einen selbst. Das eigene Sehen, Wahrnehmen, Denken, die eigene Existenz.«

»Ich verstehe noch immer nichts!«

»Jeden Augenblick geschieht ein Übergang vom Sein ins Nichts. Jeder Augenblick verstreicht, noch ehe wir ihn ganz registriert haben. Jetzt ist er. Aber sobald ich es festgestellt habe, ist er nicht mehr.«

»Aber er war einmal.«

»Was war, ist nicht mehr. Es ist endgültig vorbei. Alles versinkt ins Nichts. Unsere Vorfahren, die einmal waren, sind nicht mehr! Wir werden vergehen. Selbst die Berge werden einmal nicht mehr sein.«

»Aber Schöpfung wäre der umgekehrte Vorgang: Ein Übergang vom Nicht-Sein ins Sein!«

»Auch dafür bist du jeden Augenblick Zeuge: Der zukünftige Augenblick ist noch nicht. Wir selbst sind noch nicht das, was wir sein werden! Jeden Augenblick geschieht ein Übergang vom Nichtsein zum Sein. Das meinen wir, wenn wir sagen: Gott schafft jeden Augenblick aus dem Nichts! Und er erhält es, bis es wieder ins Nichts zurücksinkt!«

»Das klingt, als könnten die Dinge jederzeit anders werden. Aber sie bleiben doch dieselben! Und gerade darin zeigt sich nach stoischer Philosophie die göttliche Vernunft: in allem Regelmäßigen, Geordneten, Gesetzmäßigen, Bleibenden!«

»Nach unserem Glauben hat Gott auch die Ordnung der Welt geschaffen. Und er schafft sie jeden Augenblick neu. Er läßt sie nicht in Chaos versinken.«

»Aber er könnte jeden Augenblick etwas ändern?«

»Er könnte! Wir glauben nicht, daß die Ordnung der Welt schon endgültig ist. Es ist Gottes Vernunft, die sich in ihr zeigt. Aber sie muß sich in der ganzen Welt stets neu realisieren. Sie weist über den gegenwärtigen Zustand hinaus!«

Metilius seufzte tief. Er beugte sich zu dem Tisch vor, neben dem wir lagen, und angelte sich eine Hand voll roter Trauben. Nach einer Weile sagte er: »Bei diesen Fragen überkommt mich oft ein schrecklicher Schwindel. Ich kann die Leute gut verstehen, die sagen: Das ist abstrakte Grübelei – ohne Bedeutung für das Leben.«

Ich widersprach: »Es bedeutet viel für unser Leben. Ein Stoiker wird sagen: Ich habe in dieser Welt den Auftrag, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Das heißt: In Übereinstimmung mit der ewigen göttlichen Ordnung, die sich in ihr zeigt. Er akzeptiert die Welt, wie sie ist. Wir aber glauben nicht an eine ewige Ordnung. Jeden Augenblick wird sie neu geschaffen. Jeden Augenblick dem Chaos und Nichts entrissen. Wir glauben an den Auftrag, in Übereinstimmung mit dem wahren Gott zu leben, dessen Schöpfung auf eine neue Ordnung hinzielt.«

»Deswegen seid ihr so rebellisch: Der Gott, der aus Nichts alles schafft – der kann auch aus Verlierern Gewinner machen, aus Vertriebenen Eroberer!«

»Ja, so ist es. In einem Lied singen wir:

Er hat Mächtige von den Thronen gestoßen

und Niedrige erhöht.

Hungrige hat er mit Gütern erfüllt

und Reiche leer hinweggeschickt.«248

»Verstehst du, daß ein römischer Offizier mit diesem Gott seine Schwierigkeiten hat? Und trotzdem zieht mich etwas an. Ich weiß nicht was. Ich möchte ihm nachgehen, auch in einem anderen Land.«

»Würdest du lieber in Palästina bleiben?«

»Ich habe dies Land liebgewonnen. Aber es ist paradox. Gerade als jemand, der Sympathie für den jüdischen Glauben gewonnen hat, möchte ich weg von hier.«

Ich schwieg.

»Als Soldat lebe ich hier in einer judenfeindlichen Umgebung. Unsere Soldaten sind keine Römer. Sie sind Syrer und Griechen aus Palästina. Sie hassen die Juden. Wenn ich dem Kaiser einen Rat geben könnte, würde ich raten: Er soll sie anderswohin versetzen und dafür römische Soldaten schicken.«249

»Aber gibt es nicht auch unter denen viele Antisemiten?«

»Gewiß. Aber hier ist es eine feste Tradition. Ich habe mir erklären lassen, woher das kommt. Die letzten selbständigen Könige der Juden, die hasmonäischen Könige, haben die umliegenden syrischen und griechischen Städte unterworfen und versklavt. Seitdem fürchten diese Städte und ihre Bewohner nichts mehr als ein mächtiges jüdisches Königreich. Besonders mißtrauisch sind sie gegenüber allen jüdischen Königen.«

»Aber es gibt doch keine jüdischen Könige mehr!«

»Nicht direkt, aber es gibt Leute, die entweder behaupten, der erwartete jüdische König zu sein, oder von denen andere erhoffen, sie würden als Könige und Messiasse hervortreten – wie dieser Jesus, den wir vor kurzem hingerichtet haben.«

»Und solche Königsanwärter sind bei den Soldaten verhaßt?«

»Und wie! Was haben unsere Soldaten nicht alles gemacht, um diesen Jesus zu verhöhnen. Nachdem er schon verurteilt und durch Folter verunstaltet war, riefen sie die ganze Kohorte zusammen und zogen ihm ein Purpurgewand an, flochten eine Dornenkrone und setzten sie ihm auf. Dann fingen sie an, ihn zu begrüϐen: Heil dir, König der Juden! Und schlugen ihn mit einem Rohr auf den Kopf, spuckten ihn an und knieten vor ihm nieder und huldigten ihm.250 Sie machten sich über den armen Menschen lustig. Ihr ganzer Judenhaß kam in diesen Mißhandlungen zum Ausdruck.«

»Und warum seid ihr Offiziere nicht eingeschritten?«

»Nicht alle denken so wie ich. Pilatus selbst ist nicht gut auf die Juden zu sprechen. Und der starke Mann in Rom, Sejanus, soll ein entschiedener Judenfeind sein.«

»Aber dann ist der Haß gegen die Juden schuld an der Hinrichtung Jesu!« rief ich aus.

»Auch das. Aber hier kamen viele Gründe zusammen«, meinte Metilius, »Gründe, über die du vielleicht besser Bescheid weißt als ich?«

Ich wurde wieder mißtrauisch: Wollte er mich über Jesus ausfragen? Die Römer mußten daran interessiert sein, Informationen über seine Bewegung zu sammeln. Konnte sie doch wieder aufblühen oder Nachfolger finden.

Doch Metilius fuhr fort: »Warum hat sich das Volk in Jerusalem für Barabbas ausgesprochen und nicht für Jesus?«

Ich zuckte die Achseln. Ich wußte es wirklich nicht. Metilius sagte:

»Ich habe inzwischen mehr über jenen merkwürdigen Vorfall im Tempel erfahren. Jesus hat ein Orakel über den Tempel geäuϐert: ›Dies mit Händen gemachte Haus wird zerstört werden und ein anderes, nicht mit Händen gebautes errichtet werden.‹251 Die Vertreibung einiger Geldwechsler und Opfertierverkäufer aus dem Tempel sollte eine Illustration dieser Weissagung sein. Aber mit solchen Orakeln und Provokationen hat er sich keine Freunde in Jerusalem geschaffen. Von der Heiligkeit des Tempels lebt fast die ganze Stadt. Alle Priester und Hohenpriester, die von den Abgaben an den Tempel profitieren. Alle Tempelhandwerker, die an ihm bauen. Alle Gastwirte, die die vielen Besucher beherbergen. Alle Händler mit Opfertieren bis hin zu den Gerbern, welche die Häute der geopferten Tiere weiterverarbeiten. Wer die Heiligkeit des Tempels angreift, tastet die wirtschaftliche Grundlage dieser Handwerker und ihrer Familien in Jerusalem an. Pilatus hat es bitter erfahren müssen, als er Kaiserbilder in Jerusalem einführen und Geld aus der Tempelkasse zu profanen Zwecken verwenden wollte.«

Mir fiel ein, daß auch Jesu Lehre von rein und unrein viele verunsichern konnte: Wenn es keine reinen Speisen mehr gab, keine reinen Geräte, keine reine Ware, keine reinen Menschen – dann konnte alles genausogut von Heiden wie von Juden gekauft werden. Ich dachte an unser einträgliches Geschäft mit reinem Olivenöl in den Diasporagemeinden der syrischen Städte. Aber ich lenkte das Gespräch auf einen anderen Punkt:

»Der jüdische Staatsrat, das Synhedrium, hat Jesus ausgeliefert. Hätten sie ihn nicht einfach laufen lassen können? Warum haben sie es getan?«

Metilius meinte, auch dazu gebe es nur Vermutungen: »Ganz gewiß profitieren viele Mitglieder im Synhedrium vom Tempel. Alle Hohenpriester lebten von den Zehnten und anderen Abgaben an den Tempel, wie sie im Gesetz vorgesehen waren. Sie waren deshalb an der unantastbaren Heiligkeit von Tempel und Gesetz interessiert. Jesus aber war kritisch gegenüber dem Tempel eingestellt und hielt sich nicht an alle Gesetzesvorschriften. Mußten sie nicht fürchten, daß das Gesetz, also ihre Existenzbasis, aufgelöst wurde?«