Ich weiß, Jesus steht dir nahe. Du hast seinen sanften Weg der Rebellion verteidigt und meinen Weg des Widerstands abgelehnt. Nun bin ich unlösbar mit ihm verbunden. Immerfort denke ich darüber nach, was das für mich bedeutet.
Wenn er stellvertretend für mich gestorben ist, dann bin ich verpflichtet, stellvertretend für ihn zu leben. Du würdest wahrscheinlich sagen: ich sei ihm schuldig, daß ich mich seinem Weg anschließe. Aber ich bin zu einem anderen Ergebnis gekommen. Unsere beiden Wege sind einander entgegengesetzt und doch aufeinander angewiesen.
Die sanfte Rebellion des Jesus wird von den Mächtigen nur ernst genommen, wenn sie wissen: Die Alternative wäre gewalttätige Rebellion, die unabsehbare Risiken in sich birgt. Nur in solch einer Situation haben Menschen wie Jesus eine Chance. Nur mit uns im Hintergrund haben sie Gewicht.
Aber auch für uns gilt: Unser harter Weg hat nur eine Chance, wenn der andere Weg noch gangbar ist. Wir können die bestehende Ordnung erschüttern, aber wir können mit unseren Methoden keine neue Ordnung aufbauen. Wir stehen in Gefahr, von den Konsequenzen unserer Gewalttaten eingeholt zu werden: Gewalt zeugt wieder Gewalt. Wenn wir uns einmal durchgesetzt haben werden, werden wir auf Vergebung und Versöhnung angewiesen sein.
Stellvertretend füreinander müssen wir unsere Wege gehen. Sie sind verschieden und oft entgegengesetzt. Ich weiß, daß Jesus unseren Weg nicht billigen würde. Aber dennoch sind wir aufeinander angewiesen. Sein Weg steht in Gefahr, von den Mächtigen ausgenutzt zu werden. Wir stehen in Gefahr, unser Ziel aus den Augen zu verlieren.
Am Ende werden uns unsere Wege zusammenführen: ja, sie haben sich schon vereint. Mit Jesus wurden zwei meiner Freunde gekreuzigt. Sie gehören zu ihm. Er starb als »König der Juden«, unsere Leute als sein Gefolge.259 4 Ich erkenne an, daß er überlegen ist. Aber er braucht uns. Er braucht unsere schmutzige Arbeit. Er braucht sein Gefolge. Wir waren im Sterben bei ihm, als seine Jünger ihn verlassen hatten. Wenn ich einmal den Römern in die Hände falle und sein Schicksal erleide, werde ich mit ihm vereint sein.
Gott sei uns allen gnädig!
Dein Freund
Barabbas
Während ich las, hatte Baruch weitergeredet. Meine Aufmerksamkeit war gespalten. Die Stimme des fernen Barabbas kam näher, Baruchs Stimme wurde ferner. Und doch war sie für mich wichtig. Denn ohne seine Anwesenheit hätte mich ohnmächtige Verzweiflung überwältigt. Ich erkannte sofort: Barabbas würde so enden wie Jesus. Weder sein Weg noch der Weg Jesu war gangbar. Auch meine Vorstellungen waren Illusion. Ich hatte von Reformen geträumt. Dazu müßte man Macht haben; und die lag bei den Römern. Solange sie glaubten, mit Truppen jeden Unmut ersticken zu können, hatten sie an einer Verbesserung der Verhältnisse kein Interesse. Nichts ging. Es war alles sinnlos. Man konnte nichts machen.
Zum Glück konnte ich in diesem Augenblick wenigstens etwas tun: den Brief verbrennen. Ich hielt das Papyrusblatt über die Flamme des Öllämpchens. Feuer züngelte nach oben. Unruhige Helle flackerte durchs Zimmer. Baruchs erschrockenes Gesicht schwankte in den kurzlebigen Schatten. Er nahm zum ersten Mal wahr, daß ich mit ganz anderem beschäftigt war.
»Was tust du da?« fragte er bestürzt.
»Ich verbrenne diesen Brief.« In mir loderten Ekel und Abscheu und verwandelten jeden Glauben in Asche. Mich überkam eine destruktive Lust gegen alles.
»Baruch«, sagte ich: »Manchmal muß man einen Brief verbrennen und seinen Glauben dazu!«
»Was meinst du?«
Wie weit waren wir mit unseren Gedanken voneinander entfernt! Ich zweifelte, ob wir uns an diesem Abend je im Gespräch würden finden können.
»Baruch«, sagte ich: »Vergiß nicht, warum die Essener dich ausgestoßen haben. Du hast das Gerücht von ihren Schätzen als Illusion entlarvt! Du hast durchschaut, daß es dazu dient, Menschen der Gemeinschaft auszuliefern und sie zur Abgabe ihres Besitzes zu bewegen! Siehst du nicht, daß die Anhänger Jesu ähnliche Illusionen haben?«
»Keiner von ihnen behauptet, er habe verborgene Schätze.«
»Dafür sprechen sie von einem Schatz im Himmel. Sie glauben an einen Toten, der im Himmel die Macht für sie ergriffen hat. Ohne diesen Glauben brächten sie niemanden dazu, freiwillig allen Besitz für die Gemeinschaft herzugeben.«
»Ein Lebender hat für uns alle Macht im Himmel und auf Erden ergriffen. Wenn Gott aber einen Toten lebendig machen kann, kann er dann nicht auch unsere toten Herzen mit lebendem Geist erfüllen und uns zu Dingen befähigen, die niemand für möglich gehalten hat?«
»Worin liegt denn der Unterschied zwischen verborgenen Schätzen in der Erde und einem verborgenen Stellvertreter im Himmel? Beides ist unkontrollierbar! Beides könnte Illusion sein! Jede Gruppe braucht eben ein paar Lebenslügen, damit alle zusammenbleiben, die Essener genauso wie ihr.«
»Du übersiehst einen Unterschied: Niemand von den Essenern hat die Schätze gesehen. Jesus aber wurde von vielen gesehen. Viele fanden in seinen Worten Wahrheit. Vielen erschien er nach seinem Tod.«
»Und wenn diese Erscheinungen Phantasien und Halluzinationen waren?«
»Warum sollte Gott nicht Phantasien und Halluzinationen benutzen, um eine Botschaft an uns zu richten?«
»Welche Botschaft?«
»Daß Gott sich neu auf Jesu Seite stellt – auch nach seinem Tod.«
»Muß man nicht richtiger sagen, daß die Jünger sich neu auf Jesu Seite gestellt haben?«
»Gottes Geist trieb sie dazu!«
»Woran erkennst du hier Gottes Geist?«
»Weil Gott schon immer so mit uns gehandelt hat. Schon immer hat er die Schwachen und Ausgestoßenen erwählt. Genauso hat er jetzt den Gekreuzigten erwählt.«
»Ich zweifle, daß dieser Geist Gottes je eine Gruppe von Menschen ergreifen kann. Jede Gruppe braucht Opfer und Ausgestoßene. Würde ich mit meinen skeptischen Fragen bei euch nicht genauso in die Wüste geschickt werden wie du bei den Essenern?«
Baruch protestierte: »Wir haben keine verborgenen Schätze, um Menschen zu ködern. Einmal hat ein Ehepaar einige Schätze tatsächlich verborgen halten wollen. Aber das kam heraus!«
»Und was geschah mit ihnen?«
»Sie hatten einen Acker verkauft und der Gemeinde angeblich den ganzen Verkaufsertrag gegeben, in Wirklichkeit aber den halben Erlös behalten. In einer Gemeindeversammlung wurde festgestellt, daß sie gegen den Geist unserer Gemeinschaft verstoßen hatten.«260
»Hat man ihnen verziehen?«
»Das Urteil traf sie wie ein Schock. Beide starben in wenigen Minuten.«
Erregt sprang ich auf und rief: »Hast du nicht selbst erlebt, wie das ist, wenn man gegen den heiligen Geist einer Gemeinschaft verstößt? Du wurdest dem Hungertod ausgeliefert. Und ihr treibt zwei eurer Mitglieder in den Tod, weil sie etwas Gutes nicht so perfekt taten, wie ihr es wünscht.«
»Niemand wollte, daß sie starben. Es geschah alles von selbst.«
»Baruch«, rief ich, »wie kannst du so einer Kommune angehören! Ist das denn im Geist Jesu gehandelt? Hat er nicht oft mit Zöllnern zusammen gegessen, die ständig Geld unterschlagen? Hat er je seine Macht dazu eingesetzt, Menschen tot umfallen zu lassen?«
Baruch schwieg betroffen.
Dann sagte er leise: »Vielleicht hast du recht. Auch wir sind nicht vollkommen. Dennoch gibt es in unserer Kommune viel Liebe und Hilfsbereitschaft. Warum redest du so hart gegen sie? Willst du mich auch aus ihr herausholen?«
Wollte ich das? Warum hatte ich mit solchem Eifer versucht, Baruch in seinem Glauben zu verletzen? Tat ich es, weil ich selbst verletzt war? Ich brauchte lange, bis ich antwortete:
»Als ich dich aus der Essenergemeinde herausholte, war alles anders. Damals ging es dir schlecht. Heute habe ich Probleme. Mit diesem Jesus wurde etwas in mir zerstört. Ich hatte viel von ihm erhofft. Auch die Lösung persönlicher Probleme. Jetzt habe ich alle Illusionen verloren und möchte mich nicht in neue Illusionen hineinreden!«