Für Baruch mußte das ziemlich unverständlich sein. Aber es tat mir gut, als er sagte: »Komm doch zu uns!«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich eigne mich nicht für eure Kommune. Ich bin ein reicher Kaufmann. Was soll ich in einer Gemeinschaft, die Besitzerwerb verachtet und so streng mit ihren Mitgliedern umspringt!«
Zwischen Baruchs Begeisterung und meiner Traurigkeit lagen Welten. Wir versuchten noch ein wenig, den trostlosen Nachgeschmack des Aneinandervorbeiredens durch Verständigung in belanglosen Alltagsdingen zu mildern. Unser Gespräch verlief sich in der fortschreitenden Nacht. Endlich legten wir uns schlafen, Baruch in einem Zimmer im Untergeschoß, ich oben. Ich wußte, daß ich so bald keinen Schlaf finden würde – trotz aller Müdigkeit. Lange starrte ich in die Nacht.
Über mir krümmte sich der klare Sternenhimmel. Millionen von Sternen flimmerten unendlich weit weg von mir. Mein eigenes Leben war so winzig – ein Stückchen Staub auf dieser Erde. Was war denn diese ganze Welt? War sie etwas anderes als eine zufällige Ansammlung von Dreck und Staub, von Licht und Dunkelheit, von Erde und Wasser? Und da lebten verschiedene Staubgebilde und quälten sich im Lebenskampf gegeneinander ab, indem sie sich unterdrückten, ausnutzten, erniedrigten und opferten. Und die Menschen, denen das bewußt wurde, verzweifelten. Sie lehnten sich auf. Sie wollten entkommen. Die einen rebellierten mit Gewalt – und gerieten selbst in den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt. Die anderen ließen in blutrünstigen Phantasien die Welt in Flammen untergehn – und beschworen damit größeres Leid herauf als das Leid, deretwegen die Welt ihre Vernichtung verdiente! Andere zogen in die Wüste, bauten eine Gegenwelt auf, wollten Heilige sein im unheiligen Getriebe der Welt. Aber auch sie schickten ihre Sündenböcke in die Wüste, wenn sie es für nötig hielten. Nicht einmal die Opfer lernten hinzu! Nicht einmal sie verweigerten ihre Zustimmung, wenn andere zu Opfern wurden! Und alle an diesem grausamen Spiel Beteiligten brachten gute Gründe vor: Die einen wollten Ruhe und Frieden wahren, die anderen Gerechtigkeit durchsetzen, die dritten die Gebote Gottes erfüllen. Alle hatten Rechtfertigungen. Und alle verfingen sich in der grausamen Logik dieser Welt.
Wieder packte mich ein Ekel über alles. Und es fielen mir erneut Worte aus unseren Schriften ein:
Und wiederum sah ich all die Bedrückungen,
die unter der Sonne geschehen,
sah die Tränen der Unterdrückten fließen,
und niemand tröstete sie;
von der Hand ihrer Bedrücker erlitten sie Gewalt,
und niemand tröstete sie.
Da pries ich die Toten, die längst Gestorbenen:
Glücklicher sind sie als die Lebenden, die jetzt noch leben,
noch glücklicher als beide aber ist der Ungeborene,
der noch nicht geschaut hat das böse Tun,
das unter der Sonne geschieht.
Und ich sah, daß alles Mühen und alles Gelingen
nur Eifersucht des einen gegen den anderen ist.
Auch das ist nichtig und ein Haschen nach Wind.261
War das die Wahrheit? Wenn es aber die Wahrheit war, die ganze Wahrheit, warum sollte man bei diesem sinnlosen Spiel mitmachen? Warum nicht streiken? Warum nicht sagen: Ich will dies Leben nicht? Ich entziehe mich ihm freiwillig? Wäre das nicht konsequent, wenn die Toten glücklicher sind als die Lebenden?
Ich schaute meine Hände an und stellte mir vor, wie tote Hände aussehen. Ich tastete über mein Gesicht, um die Formen des toten Schädels zu ahnen, der in mir steckt. Ich versuchte, mir einen kalten und leblosen Körper vorzustellen. Aber wie ich meinen Körper berührte, spürte ich, daß er warm war. Mein Herz pochte regelmäßig. Mein Atem ging ein und aus. Meine Augen sahen den sternfunkelnden Himmel. Meine Ohren hörten die Brandung des Meeres. Meine Nase roch den Geruch von Sand und Salzwasser. Ich sah, hörte, roch. Ich lebte, atmete und fühlte. War es nicht ein Wunder, wenn Staub und Erde leben, denken und fühlen, zweifeln und verzweifeln konnten? Wieviele Prozesse in meinem Körper mußten jetzt aufeinander abgestimmt laufen, damit ich ohne körperlichen Schmerz diesen Augenblick erleben konnte! Und wenn es nur ein vorübergehender Augenblick war – wurde er dadurch wertloser?
Ich dachte an Barabbas: Mußte er nicht vor ähnlichen Gedanken gestanden haben? Was wird aus diesem Körper, der jetzt noch lebte, aber zur Hinrichtung bestimmt war? Noch einmal hatte er das Leben geschenkt bekommen. War das nicht gut, selbst wenn alles so sinnlos schien, was dazu geführt hatte? War es nicht gut, das Leben immer wieder geschenkt zu bekommen, selbst wenn es einen dunklen Zusammenhang gab mit all den Opfern? Mit all jenen, die wie Jesus von den Konflikten dieser Welt zerrieben werden?
Ich spürte: Mein Leben war ein Stück geliehenes Leben. In mir lebte von allen Menschen etwas fort, von den Glücklichen und den Unglücklichen, von dem frei durch Galiläa ziehenden Jesus und dem gekreuzigten Opfer. Es schien mir eine Verpflichtung, dies Leben zu bewahren. War es nicht Verrat, wenn man es wegwarf? Und wenn mein eigenes Leben geopfert würde, irgendwo in den Kellern der Römer oder den Höhlen des Terrors, würde es nicht weiterleben in all jenen, die sich gegen den Gedanken auflehnten, daß Leben nur auf Kosten anderen Lebens möglich ist? Gab es nicht tief in mir die Ahnung eines Lebens, das nicht gegen die anderen, sondern zusammen mit ihnen zur Erfüllung gelangen konnte? Wo alle, die Glücklichen und die Unglücklichen, so eng zusammengehören würden wie die Glieder eines Körpers? Wo der Traum des Baruch in Erfüllung ging, daß alle alles gemeinsam hatten?
Ich ging schlafen. Im Schlaf träumte ich wieder jenen Traum, der mich so lange verfolgte. Bisher hatte ich nur Bruchstücke von diesem Traum geträumt. Jetzt aber schloß er sich zu einer Einheit zusammen.262
Ich stand am Meer. Ein Sturm wühlte das Wasser auf. Schaumbedeckte Fluten überstürzten sich und klatschten tosend auf den Strand. Da löste sich aus dem Chaos eine Gestalt. Umrisse wurden erkennbar. Ein Löwe mit triefender Mähne schritt an den Strand, hob die Tatzen und fauchte: »Mir gehört das Land. Mir – und keinem sonst!« Ich schaute mich um und sah viele Mensehen, die sich erschrocken vor dem Tier verkrochen. Einige blieben stehen. Da sprang der Löwe auf sie zu, griff einen heraus und zermalmte ihn mit seinen Zähnen, so daß sein jämmerliches Schreien bald verstummte. Sofort fielen die anderen Menschen nieder und bettelten um Gnade. Triumphierend genoß der Löwe die Huldigung der Menschen. Jetzt erblickte er eine Menschengruppe, in der nicht alle auf den Knien lagen. Wütend fauchte er sie an. Zwei von ihnen versuchten zu fliehen, als er sich näherte. Aber sie wurden eingeholt und getötet. Da hatte er sein Ziel erreicht: Alle lagen vor ihm auf den Knien. Der Löwe richtete sich auf und brüllte: »Ich bin kein Unmensch! Ich bin kein Unmensch! Ich schaffe Frieden! Frieden auf Erden!« Dann verschwand sein Bild.
Und wieder stand ich am tosenden Meer. Aus den heranrollenden Wogen erhob sich ein neues Untier: Ein breitschultriger Bär tappte aus dem Wasser. Er lief auf die Menschen zu und jagte sie in zwei Gruppen auseinander. Die eine Gruppe erhielt Peitschen, die andere wurde gefesselt. Die mit der Peitsche begann, die anderen Menschen zur Arbeit zu treiben. Hin und wieder sackte einer der Gefesselten vor Erschöpfung zusammen. Sofort sprang der Bär heran und fraß ihn auf. Anderen gelang es, ihre Fesseln zu lösen. Sie versuchten, unbemerkt ins Dickicht zu gelangen. Aber mit schnellen Schritten war der Bär bei ihnen und tötete sie. Manchmal verbündeten sich die beiden Menschengruppen, warfen Peitschen und Fesseln weg und versuchten zu fliehen. Aber der Bär war schneller: Mit wütenden Gesten fuhr er in die Gruppe hinein und richtete ein Blutbad an. Dann erhob er sich und brüllte: »Ich schaffe Ordnung! Ordnung! Eine Welt voll Ordnung!«