Und wieder stand ich am tosenden Meer. Die Wogen spritzten in die Höhe, als wollten sie den Himmel überfluten. Ein neues Ungetüm wurde aus ihnen geboren: Ein Adler tauchte aus dem Meer. In seinen Krallen hielt er eine runde Kugel. Auf ihr war ein Kreuz mit abwärts gebogenen Haken. Er breitete die Flügel aus und überschattete das ganze Land. Die Menschen liefen in Panik auseinander. Schreiend suchten sie Zuflucht in Höhlen und Gruben. Aber nicht alle fanden Schutz. Einige versuchten zu den anderen in Höhlen und Gruben zu kriechen, wurden aber mit Gewalt zurückgestoßen. Niemand wollte sie aufnehmen. So irrten sie auf der freien Ebene hilflos hin und her: Frauen, Kinder, Männer, Alte. Nur selten zog jemand einen von ihnen in seinen Schlupfwinkel und gewährte ihm Schutz. Der Adler aber schwebte lange und drohend über den Umherirrenden, bis sie vor Angst nicht ein noch aus wußten. Dann ließ er seine Kugel fallen. Ein mächtiger Knall dröhnte über die Ebene. Schwarzer Rauch verdunkelte den Himmel. Es roch nach Fäulnis und Blut. Als sich der Rauch verzogen hatte, lag die Ebene voll Leichen und Knochen. Der Adler kreischte: »Ich schaffe Lebensraum! Raum für das Leben, Leben auf dieser Erde!« Dann löste sich sein Bild in nichts auf.
Aber noch war der Schrecken nicht zu Ende. Das Meer wütete und tobte weiter gegen das Land. Sein Aufruhr hielt an. Neue Untiere schoben sich an den Strand. Diesmal waren es zwei riesige Kraken, die sich gegeneinander lagerten und mit lang ausgreifenden Armen die ganze Welt zu umspannen suchten. An den Enden ihrer Arme waren je zwei Löcher, ein großes und ein kleines, bewacht von Aufsehern. Von denen gedrängt, schleppten die Menschen Geld heran und stopften es in die großen Löcher. Die Kraken saugten es gierig an. Durch die kleinen Löcher rollte für die Aufseher ein wenig Geld zurück. Dafür trieben sie mit Peitschen die anderen an, die Kraken zu sättigen. Viele Menschen hungerten, viele waren krank, viele nackt, viele irrten in der Fremde umher. Mit dem Mut der Verzweiflung griffen die Mißhandelten manchmal ihre Wächter an. Da sandten die Kraken Schwerter und Speere an die Aufseher, mit denen sie den alten Zustand wieder herstellten. Viele von den Aufsässigen wurden in Gefängnisse gesteckt, viele wurden ermordet. Und die Krakenarme wurden wieder bedient. Hin und wieder kam es auch vor, daß eine Gruppe von Wächtern durch eine andere Gruppe verdrängt wurde. Dann zog schon mal eine Krake ihre Arme ein, so daß die andere ihre Arme in die entstandene Lücke schieben konnte. Die beiden Untiere bäumten sich dann gegeneinander auf und schüchterten sich mit Drohgebärden ein. Sie ließen viele kleine Ungeheuer aus dem Meer auftauchen. Zuerst wurden lange röhrenartige Mäuler sichtbar, dann runde Köpfe, die sich auf schwerfälligen Rümpfen langsam hin und her drehten. Es waren Drachen oder Riesenschildkröten, die da ans Land krochen. Sie nahmen in zwei Gruppen Stellung gegeneinander. Jedesmal, wenn die eine Seite durch eine neue Riesenschildkröte verstärkt worden war, zog die andere nach. Immer mehr gepanzerte Ungeheuer standen sich gegenüber. Sie fauchten Feuer. Aus allen Röhren flammte eine rote Lohe. Ein Brand drohte die Erde zu verzehren. Die Menschen, die sich bisher hinter den gepanzerten Ungeheuern verborgen hatten, gerieten in Panik. Kopflos flohen sie in alle Richtungen. Ich erwartete eine große Katastrophe.
Da verhüllte plötzlich Finsternis den Blick. Einen Augenblick sah man weder Meer noch Land. Weder Sterne noch Mond. Weder Bäume noch Sträucher. Die Klagen der Menschen waren verstummt, die Tiere verschwunden. Vom Land her erschien am Himmel ein Glanz. Eine menschenähnliche Gestalt wurde sichtbar. Sie verbreitete um sich ein warmes Licht. In diesem Licht wurde die mißhandelte Erde wieder sichtbar. Ich sah die Tiere aus dem Abgrund. Sie waren tot. Die Kraken hatten ihre Arme eingezogen und waren in sich zusammengesunken. Die gepanzerten Ungeheuer waren verschrottet. Überall erhoben sich die Menschen. Sie atmeten auf. Und schauten erwartungsvoll auf die Gestalt vom Himmel. Noch konnte ich sie nicht erkennen. Doch sie kam mir bekannt vor. Plötzlich durchfuhr es mich: Das war der Mensch, von dem ich in den Kerkern des Pilatus geträumt hatte: Er, der mich schon einmal im Traum aus den Klauen des Tieres befreit hatte. Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als ich seine Stimme hörte:
Selig sind die Friedensstifter,
denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.
Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters,
Ererbt das Reich!
Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben;
ich war durstig, und ihr habt mich getränkt;
ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt;
ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet;
ich war krank, und ihr habt mich besucht;
ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen?263
Es war Jesus, ein verwandelter Jesus. Ich hatte ihn nur einmal gesehen – von der Stadtmauer in Jerusalem aus. Damals hing er tot am Kreuz. Jetzt aber strahlte er Leben aus, Frieden und Freiheit. Die Herrschaft der Tiere war zu Ende! Ich wachte auf, beglückt und verwirrt.
Ich erhob mich von meinem Bett, trat ins Freie und sah vom Obergeschoß unseres Hauses aufs Meer. Hinter einem weißen Streifen Sand breitete sich intensiver werdende Dunkelheit nach Westen aus, jene Dunkelheit, aus der die wirren Träume gestiegen waren. Jetzt lag sie ruhig und entspannt da. Kein Ungeheuer kroch ans Land. Kein Sturm zerwühlte die Oberfläche des Meeres. Kein Aufruhr brauste gegen den Strand. Etwas anderes geschah. Vom Land her verstärkte sich das Licht. Wo Himmel und Meer ineinandergeglitten waren, deutete sich der Horizont als blasser Streifen an, farbige Schatten schwebten der unsichtbaren Sonne im Osten entgegen. Strahlen brachen aus der Tiefe des Landes hervor. Und da erschien die Sonne über den Hügeln und übersprühte das Meer mit funkelndem Licht. Die Stadt reflektierte scheu die erste Helligkeit. Immer klarer hoben sich die Gebäude aus dem Dämmer der Gassen: Tempel und Synagoge, die Häuser der Juden und Heiden – alles wurde in das erwachende Licht getaucht. Die Sonne ging auf über Guten und Bösen, Gerechten und Ungerechten. In mir wurde es hell und warm.
Überwunden waren die chaotischen Ungeheuer der Nacht. Vergangen war die Angst vor der Härte des Lebens. In mir hatte die Herrschaft der Tiere ein Ende gefunden. Mir war der wahre Mensch erschienen. Und ich hatte in ihm die Züge Jesu erkannt. Er hatte mich der Erde wiedergegeben. Sie war nicht besser geworden seit gestern. Wie gestern würde auch heute der Kampf um Lebenschancen auf ihr weitergehen. Aber er war nicht alles. Dieser Kampf mußte nicht all mein Tun und Sinnen beherrschen. Ich schloß einen neuen Bund mit dem Leben.
Ich spürte deutlich, wie mich von allen Dingen her eine Stimme erreichte, die mir dies Bündnis mit dem Leben anbot: Nie mehr würde ich die Erde verwünschen, nie mehr das Leben verneinen! Nie mehr würde ich mich von den Tieren des Abgrunds überwältigen lassen! Ich hörte die Stimme, und sie war eins mit der Stimme Jesu. Ich hatte die Gewißheit: Wohin ich auch gehe, überall würde sie mich begleiten. Nirgends könnte ich mich ihr entziehen. Und ich antwortete und betete:
Gott,
du hast mich erforscht und du kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt;
du bist vertraut mit all meinen Wegen.