Noch liegt mir das Wort nicht au der Zunge -
du, Gott, kennst es bereits.
Du umschließt mich von allen Seiten
und legst deine Hand auf mich.
Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen,
zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist,
wohin mich vor deinem Angesicht flüchten?
Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort;
bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen.
Nehme ich die Flügel des Morgenrots
und lasse mich nieder am äußersten Meer,
auch dort wird deine Hand mich ergreifen
und deine Rechte mich fassen.
Würde ich sagen: ›Finsternis soll mich bedecken,
statt Licht soll Nacht mich umgeben‹,
auch die Finsternis wäre für dich nicht finster,
die Nacht würde leuchten wie der Tag,
die Finsternis wäre wie Licht.
Denn du hast mein Inneres geschaffen,
mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
Ich danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet hast.
Ich weiß: Wunderbar sind deine Werke.264
Lange stand ich so auf unserem Haus und ließ den Traum vom Menschen in mir nachklingen. Die Herrschaft der Tiere konnte nicht ewig dauern. Irgendwann mußte der Mensch erscheinen – der wahre Mensch. Und alle würden in ihm die Züge Jesu erkennen.
Dann ging ich ins Unterzimmer und weckte Baruch. Wir aßen gemeinsam das Frühstück, teilten das Brot, tranken aus demselben Kelch und freuten uns, daß wir zusammen waren.
Anstatt eines Nachworts
Sehr geehrter Herr Kratzinger,
Sie fragen nach Abschluß des Buches, ob ich Ihnen ein paar Literaturhinweise geben könnte. Sie sind neugierig, von welcher wissenschaftlichen Literatur mein Bild von Jesus und seiner Zeit abhängig ist. Ich möchte nur die wichtigsten Titel nennen.
Die beste Jesusdarstellung ist m.E. nach wie vor G. Bornkamm: Jesus von Nazareth, Stuttgart 121980. Sehr wichtig war für mich das Buch von E. P. Sanders: Jesus and Judaism, Philadelphia 1985. Aus ihm habe ich sehr viel gelernt. Eine gute zusammenfassende Darstellung des antiken Judentums, in der Religions- und Sozialgeschichte verbunden sind, ist B. Otzen: Den antike jødedom, Kopenhagen 1984. Für die Zeitgeschichte Palästinas sind die Arbeiten von M. Hengel unersetzlich. Ich denke besonders an das Buch über »Die Zeloten«, Leiden/Köln 1961, 21976 und das umfangreiche Werk über »Judentum und Hellenismus«, Tübingen 1969, 21973. Daß viele Überlegungen aus meinen sozialgeschichtlichen Arbeiten zur Jesusbewegung und zum Urchristentum in diesem Buch ihren Niederschlag gefunden haben, ist Ihnen gewiß nicht entgangen – wie ich überhaupt sehr viel von den sozialgeschichtlichen Forschungen meiner Kolleginnen und Kollegen gelernt habe.
Zu danken habe ich aber auch den vielen Lesern, die erste Entwürfe meines Jesusbuches kritisch gelesen haben: Daniel Burchard, Gerhard und Ulrike Rau, Elisabeth und Katharina Seebaß, Gunnar und Oliver Theißen, vor allem meiner Frau. Wega Schmidt-Thomée hat das Manuskript mehrfach geschrieben und kritisch kommentiert. David Trobisch hat viele wertvolle stilistische und erzählerische Verbesserungen vorgeschlagen.
Natürlich muß ich auch Ihnen, lieber Herr Kratzinger, danken. Sie haben während der Zeit der Niederschrift meine erzählerische Phantasie immer wieder mit dem strengen Wissenschaftsethos historisch-kritischer Forschung konfrontiert. Sie haben unablässig darauf insistiert, Historisches und Erfundenes, Dichtung und Wahrheit nicht zu vermengen. Es ist wohl in Ihrem Sinne, wenn ich am Ende dem Leser verrate, daß auch Sie ein Geschöpf meiner Phantasie sind – und ein gutes Beispiel dafür, daß fiktive Gestalten Wahrheit verkörpern können.
Leben Sie wohl!
Ihr
Gerd Theißen
Anhang
Die wichtigsten Quellen zu Jesus und seiner Zeit
1. Die Evangelien und ihre Quellen
a. Das Markusevangelium ist das älteste Evangelium. Es diente Mt und Lk als Vorlage. Entstanden ist es nach Beginn oder kurz nach Ende des Jüdischen Krieges (66-70 n.Chr.), denn es kombiniert die Weissagung der Zerstörung des Tempels mit Weissagungen von Kriegsereignissen in 13,1ff. Sein Entstehungsort ist umstritten. Die altkirchliche Tradition läßt es in Rom entstanden sein. Es stammt m.E. eher aus Syrien, und zwar aus jenem Christentum, von dem auch Paulus abhängig ist. Es vertritt wie Paulus die Reinheit aller Speisen (7,18ff), zitiert vergleichbare Einsetzungsworte zum Abendmahl (14,22-24), bezeichnet wie Paulus (in deutlicher Übernahme eines vorgegebenen Sprachgebrauchs) die Botschaft als »euaggelion« (1,1), ist aber theologisch unabhängig von Paulus. Es wird aus Gemeinden stammen, in denen »Johannes Markos« so angesehen war, daß ihm ein Evangelium zugeschrieben werden konnte, obwohl er nicht Apostel war. Johannes Markos war vor allem im Osten tätig (vgl. Apg 12,12; 12,25; 13,5) und gehört zusammen mit Bamabas zu jenem Christentum, von dem Paulus ausging, von dem Paulus sich aber trennte (vgl. Apg 15,37; Gal 2,11ff). Die Gemeinde des MkEv muß einen großen Anteil von Heidenchristen gehabt haben: Jüdische Bräuche werden erklärt (7,3); ein heidnischer Hauptmann spricht als erster ein Bekenntnis zum »Sohn Gottes« (15,39).
b. Die Logienquelle (= Spruchquelle; abgekürzt Q) wurde aus dem Mt- und Lk-Evangelium rekonstruiert. Diese beiden Evangelien bringen über den ihnen gemeinsamen Markusstoff hinaus eine Reihe von Jesusworten, die in Wortlaut und Reihenfolge so auffällig übereinstimmen, daß man eine gemeinsame schriftliche Vorlage oder eine unwahrscheinlich fest geprägte gemeinsame mündliche Tradition annehmen muß. Ersteres ist m.E. wahrscheinlicher. Da der sprachliche Hintergrund der Worte aramäisch ist, dürfte die Quelle im aramäisch-sprachigen syrisch-palästinischen Raum entstanden sein. Sie spiegelt einen Zustand wider, in dem sich das Christentum noch nicht aus dem Judentum herausgelöst hatte. Alle Worte lassen sich an Israel gerichtet verstehen. Diese Sammlung von Jesusworten ist vor dem Jüdischen Krieg entstanden. Man erwartet das Kommen Jesu als Menschensohn in einer friedlichen Welt (Lk 17,26ff). Anstatt einer Zerstörung des Tempels wird geweissagt, er werde (von Gott) »verlassen werden« (Lk 13,34f; Mt 23,37ff). Andererseits setzt die Versuchungsgeschichte, die – zusammen mit der Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum – die einzige Erzählung in Q ist, die Selbstvergottung des Gaius Caligula (37-41 n.Chr.) voraus: Er ist der widergöttliche Herrscher der Welt, der den Fußfall forderte. Die Logienquelle dürfte zwischen 40 und 65 n.Chr. entstanden sein. Da die seit dem Apostelkonzil ca. 46/48 n.Chr. offiziell anerkannte Heidenmission noch nicht im Blick ist, wäre eine Datierung in den Anfang dieses Zeitraums möglich.
c. Das Matthäusevangelium ist ziemlich sicher in Syrien entstanden. Es läßt den Ruf Jesu bis nach »Syrien« dringen (4,24). Der Verfasser scheint von (Nord?-)Osten auf Palästina zu blicken: Judäa liegt für ihn »jenseits des Jordans« (19,1). Der Tempel ist zerstört, wie der matthäische Einschub in 22,7 in das Gleichnis vom großen Abendmahl zeigt. Das Evangelium ist nach dem MkEv entstanden, muß aber um 110 in Antiochien (in Syrien) in Gebrauch gewesen sein: Der aus Antiochien stammende Bischof Ignatius zitiert aus ihm. Es dürfte also zwischen 80 und 100 entstanden sein. Der Evangelist schreibt für eine Gemeinde mit judenchristlicher Tradition. Manche Stücke, die er über Mk und Q hinaus bringt (sein »Sondergut«) sind judenchristlich geprägt. In Mt 5,17-19 wird z.B. die ewige Gültigkeit der Thora festgestellt. Diese judenchristlichen Gemeinden haben sich der Heidenmission geöffnet, ohne wie Paulus diesen Weg durch Kritik an der Thora zu gehen. Die Öffnung für die Heiden spiegelt sich im Aufbau des Buches: Jesus lehnt zu Lebzeiten die Heidenmission ab (10,6), als Auferstandener schickt er die Jünger zu allen Völkern (Mt 28,18ff). Der Apostel Matthäus kann kaum der Verfasser sein. Er müßte sehr alt geworden sein. Erst als mehrere Evangelien vorlagen, hat man wahrscheinlich die Evangelien zur Unterscheidung verschiedenen Verfassern zugeschrieben. In den Kreisen, in denen das geschah, war das MtEv unter den synoptischen Evangelien (Mt, Mk, Lk) das beliebteste. Nur dieses Evangelium wurde neben dem Johannesevangelium einem Apostel zugeschrieben.