»Ich las im Protokoll etwas von Bildern des Antipas in seinem Palast. Hast du sie selbst gesehen?«
»Ja, und es gibt auch andere, die sie bezeugen könnten.«
»Dieser Heuchler! Stellt Tierbilder bei sich zu Hause auf, aber protestiert, wenn ich in meinem Jerusalemer Amtssitz Schilde mit dem Namen des Kaisers aufhängen will. 20 So etwas widerspräche euren Gesetzen!
Überhaupt diese Heuchelei: Man regt sich über meine Münzen mit harmlosen Opfersymbolen auf 21 , aber die Tempelsteuer darf man nur in tyrischer Münze zahlen! Und was findet sich dort eingeprägt? Der Gott Melkart – ein Götze! 22 Im Tempelvorhof wird alles Geld gegen diese Götzenmünzen eingetauscht. Wenn ich über den Tempelvorhof gehe, kriege ich manchmal Lust, die Tische der Geldwechsler umzustoßen! Über die regt sich keiner auf! Aber über meine harmlosen Kupfermünzen entsteht ein großes Geschrei! Doch lassen wir das!«
Pilatus hatte sich in Zorn geredet. Fast schien es, als hätte er meine Gegenwart vergessen. Doch im nächsten Moment wandte er sich mir zu. Seine Stimme klang wieder nüchtern, kalt und tot. Sie machte mir Angst:
»Überleg dir deine Entscheidung gut! Und vergiß nicht: Ich bin nicht der Unmensch, den andere in mir sehen. Ich bin nur ein römischer Präfekt, der sein Land in Ordnung halten will.«
Ich wurde abgeführt und saß wieder in meiner dunklen Zelle. Man hatte mir einen Weg nach draußen gezeigt. Aber es war eine Sackgasse. Ich saß in der Falle. Ich verwünschte meine Lage, und in meiner Ohnmacht wandte ich mich wieder an den Gott meiner Väter: 23
»Befreie uns, Gott, von diesen Schurken!
Es gibt keine anständigen Menschen mehr.
Verschwunden ist alle Menschlichkeit.
Mit Propagandareden umnebeln uns die Mächtigen.
Sie machen sich über uns lustig.
Von ihren Lippen kommen schöne Worte,
aber ihre Gedanken sinnen auf Unterdrückung.
Sie sprechen vom Frieden und drohen mit Waffen.
Sie reden von Toleranz und meinen ihre Macht.
Laß sie ersticken an ihren Reden,
an ihren wohlabgewogenen Worten,
die so staatserhaltend klingen
und uns das Rückgrat brechen wollen.
Zerstör die Arroganz ihrer Macht
und den Zynismus ihrer Herrschaft.
Sprich, Herr:
›Um der Unterdrückten willen,
um der Gefangenen willen
will ich mich erheben,
will ich retten,
die nach Freiheit seufzen!‹
Gott, du wirst uns bewahren und beschützen
vor Verbrechern und Diktatoren!
Du bist unser Halt
inmitten von Menschen, denen nichts heilig ist!
Gemeinheit breitet sich aus unter den Menschen.
Aber dein Wort ist zuverlässig,
ein Licht im Dunkeln.«
Sehr geehrter Herr Kollege Kratzinger,
Sie »bewundern« meinen Mut, unbefangen Geschichten von Pilatus zu erfinden. Ihnen würde als Historiker und Exeget das gute Gewissen dazu fehlen.
Natürlich hat Pilatus nie die Gespräche geführt, die ich ihm zuschreibe. Aber die Rahmenbedingungen seines Handelns, die in diesem Gespräch sichtbar werden, sind dieselben, die ich gerade in meiner Vorlesung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte analysiere. Gegenstand der Geschichtswissenschaft sind ja nicht nur individuelle Ereignisse, sondern auch typische Konflikte und Strukturen. Sie bilden die »Spielregeln«, nach denen die von mir erfundene Handlung abläuft.
Wenn ich mich einmal unserer akademischen Sondersprache bedienen darf, so würde ich sagen: Voraussetzung »narrativer Exegese« – so nennt man heute Erzählungen wie mein Jesusbuch – ist der Schritt von der Ereignis- zur Strukturgeschichte. Die Tiefenstruktur narrativer Exegesen besteht aus historisch rekonstruierten Verhaltensmustern, Konflikten und Spannungen, ihre Oberflächenstruktur aus fingierten Ereignissen, in denen historisches Quellenmaterial dichterisch verarbeitet wird. Diese Definition von »narrativer Exegese« klingt für meinen Geschmack zu prätentiös. Aber Sie wissen ja: Was nicht kompliziert formulierbar ist, wird in der akademischen Welt nicht ernst genommen.
Übrigens darf man in einer »narrativen Exegese« bei der Verwendung von Quellenmaterial die Chronologie manchmal vernachlässigen. Auch Ereignisse nach Jesu Tod können die strukturellen Bedingungen des Geschehens zur Zeit Jesu illustrieren. Ich habe ein gutes Gewissen, wenn ich z.B. den Wüstenasketen »Bannos«, der in den 50er Jahren in der Jordanwüste gewirkt hat, um ca. 25 Jahre zurückdatierte. Sie haben das als »Anachronismus« kritisiert. Aber so anachronistisch verfährt die Wissenschaft oft. Würden wir eine wissenschaftliche Abhandlung über Johannes den Täufer nicht mit Recht kritisieren, wenn sie nicht auf den Wüstenasketen Bannos als nächste Analogie hinwiese?
Ihre Meinung zum nächsten Kapitel würde mich sehr interessieren!
Mit freundlichen Grüßen
bin ich
Ihr Gerd Theißen
3. KAPITEL
Die Entscheidung des Andreas
Andreas – ein Spion des Pilatus? Nie und niemals! Alles in mir bäumte sich dagegen auf! Mochte Pilatus mich jahrelang in diesem Kellerloch einsperren – niemals wollte ich jemanden an die Römer verraten! Diese Römer hatten zwar Ruhe und Frieden in unser Land gebracht. Doch was war das für ein Frieden, der durch Unterdrückung und Erpressung zustande kam! Was war das für eine Ruhe, die nur Bestand hatte, weil Leute gewaltsam zum Schweigen gebracht wurden. In mir tobten die Gedanken hin und her.
Aber was sollte ich tun? Was würde geschehen, wenn ich nein sagte? Würde Pilatus mich foltern lassen, Informationen über Freunde, Familie, möglicherweise auch über Barabbas aus mir herauspressen? Würde er mich heimlich umbringen lassen, damit keiner von seinen Erpressungsversuchen erfuhr? Oder würde er mich zur Abschreckung öffentlich kreuzigen? Würde er meine Familie wirtschaftlich ruinieren? Was würde mit Timon geschehen? Mir klang noch das letzte Wort in den Ohren: Ich bin nicht der Unmensch, den andere in mir sehen! War das nicht ein deutlicher Wink? Sollte es nicht bedeuten: Nimm dich in Acht vor mir, vielleicht bin ich doch der Unmensch, als der ich bei anderen gelte.
Könnte ich mich dieser Qual doch entziehen! Irgendwohin, wo mich keine Erpressung erreichen kann! Wo niemand befiehlt und droht! Wo all die quälenden Stimmen in mir verstummen und alles ganz still ist!
Ich sehnte mich nach dem Tod. Hatte ich nicht von den Philosophen gelernt 24 : Es gibt auch in den schlimmsten Situationen einen Ausweg. Ein Tor steht immer offen: der Tod. Durch dies Tor konnte man sich den grausamsten Tyrannen entziehen. Aber war Selbstmord die richtige Lösung? Die Römer bewunderten Cato und Brutus, die sich in auswegloser Lage den Tod gegeben hatten. Auch unter Juden war diese Einstellung zu finden. Aber im Grunde dachten wir anders: Wir haben von Gott den Auftrag zum Leben. Wir können ihn nicht zurückgeben, wenn wir meinen, er sei zu schwierig. Denn wer kann wissen, was Gott noch mit uns vorhat – er, der den Verlierern und Ausgestoßenen Mut gibt. Auch unsere Vorfahren waren von allen verlassen gewesen – verlassen von den vielen Göttern, die in der Welt verehrt werden, verlassen von allen Menschen. Sie waren hilflos und verzweifelt durch die Wüste geirrt. Aber sie hatten sich nicht aufgegeben. Sie hatten Mose geglaubt, daß sie einen Auftrag hatten, den sie nicht verraten durften!