Hätte ich wenigstens die Freiheit, in der Wüste herumzuirren! Da durchfuhr mich der Gedanke: Warum sollte ich nicht zum Schein auf das Angebot des Pilatus eingehen – um spurlos in der Wüste zu verschwinden? Ich hatte gelernt, wie man in der Wüste überlebt. Bannos hatte es mir beigebracht. Zu ihm könnte ich gehen. Vielleicht war ich jetzt so weit, seine Lehre zu verstehen. Damals war sie mir fremd geblieben.
Was hatte mich zu ihm hinausgetrieben? Es war eine große Unruhe gewesen, die ich nur schwer erklären kann. Ich war in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen. Wir faßten jüdische Sitten und Überzeugungen philosophisch auf. Mein Vater sagte immer: Die Bibel spricht aus, was die griechischen Philosophen denken. Ich erinnere mich, wie wir einmal den Aufgang der Sonne bewunderten. Wir waren auf einen Berg geklettert, um sie zu erwarten. Da durchbrach sie den morgendlichen Dunst und verwandelte die Landschaft in ein wunderbares Spiel von Farben und Licht. Mein Vater sagte: »Wie gut verstehe ich, daß die Heiden die Sonne verehren. Sie ist nur ein Abglanz des wahren Gottes. Durch seinen Abglanz hindurch spüren sie Gott. Sie verwechseln zwar den Schöpfer mit seinen Geschöpfen, aber sie haben Sinn für die Schönheit dieser Welt.« 25
Er liebte schöne Dinge. Deswegen hatte uns ein Gastfreund einmal eine kleine Götterstatue geschenkt. Für meinen Vater war sie die Darstellung eines schönen Menschen, nicht mehr. Er versteckte sie in einem Nebenraum. Seine Überzeugung war: Wenn einmal der Gedanke an die Unvergleichlichkeit Gottes in allen Herzen verankert ist, kann man getrost alle Dinge dieser Welt in Bildern darstellen! 26
In solch einer Atmosphäre war ich aufgewachsen. Aber dann hatte ich entdeckt, daß nicht alle so dachten wie meine Eltern. Ich lernte den Glauben einfacher Menschen kennen, die kein Bedürfnis hatten nachzuweisen, daß ihr Glaube mit der griechischen Philosophie gleichwertig war. In fragloser Selbstverständlichkeit glaubten sie an die Einzigkeit Gottes, der keiner Verteidigung und Rechtfertigung bedurfte. Entscheidend war für sie, daß man seinen Willen erfüllte und seine Gebote im Alltag ernst nahm. Ich entdeckte eine neue Welt.
Damals entstand in mir das Verlangen, meinen jüdischen Glauben von Grund auf kennenzulernen. Ich wollte ihn durchbuchstabieren – mit meinem ganzen Leben. Ich sehnte mich nach Entschiedenheit und Klarheit. Da hörte ich von Bannos. Mich zog an, daß er in der Wüste lehrte – jenseits des normalen Lebens. Auch er meinte, wir Juden müßten noch einmal von vorne anfangen: So wie wir aus Ägypten durch die Wüste gezogen waren, um in dieses Land zu kommen, so müßten wir wieder in die Wüste. Wir müßten noch einmal in ihr die Stimme dessen hören, der im Dornbusch gesagt hat: »Ich bin, der ich bin!«
Bannos Ansichten waren radikaclass="underline" Nicht nur die Juden, nein, die ganze Welt müsse von vorne beginnen. Diese bestehende Welt sei mißraten. Es sei eine Welt von Unrecht und Unterdrückung, Ausbeutung und Angst. Sie würde in einem großen Strafgericht Gottes an ihren Widersprüchen zugrunde gehen. Dann aber werde eine neue Welt beginnen. Ich höre noch seine Stimme:
»Dann wird Gott ein ewiges Königreich für alle
Menschen errichten,
derselbe Gott, der einst das Gesetz gab.
Alle Menschen werden diesen Gott verehren
und zu seinem Tempel strömen.
Und es wird nur einen Tempel geben.
Von überall werden Wege zu ihm führen.
Alle Gebirge werden gangbar,
alle Meere schiffbar.
Alle Völker werden in Frieden leben.
Alle Waffen werden verschwinden.
Reichtum wird gerecht verteilt sein.
Und Gott wird unter den Menschen sein.
Wölfe und Schafe werden auf den Bergen zusammen
Gras essen,
Panther werden mit Böcklein weiden.
Bären werden mit Kälbern lagern,
und der Löwe wird Stroh aus der Krippe fressen
wie ein Ochs
und kleine Jungen werden ihn an einem Strick führen.
Drachen und Nattern werden mit Säuglingen schlafen
und ihnen kein Leid antun.
Denn die Hand Gottes wird über ihnen sein.« 27
Schöne Träume waren das! Träume von einer Flucht in eine neue, bessere Welt! Nicht viel besser als mein Traum von einer Flucht in die Wüste. Wie unrealistisch war er doch! Die Römer wußten ja von meinem Wüstenaufenthalt. Sie würden mich überall suchen lassen. Bannos würde mit ins Verderben gezogen werden. Und wahrscheinlich würden sie dann erst recht auf die Spuren von Barabbas kommen.
Ich war schon einige Zeit mit Bannos zusammen gewesen, als Barabbas zu uns stieß. Auch der kam aus Galiläa und stammte wie ich aus Sepphoris. Seine Eltern waren als junges Ehepaar mit Mühe der Katastrophe unserer Stadt entkommen. Sie hatten Haus und Besitz verloren. Jetzt wohnten sie in bescheidenen Verhältnissen in Gischala im Norden Galiläas. Die Flucht aus Sepphoris und die barbarische Behandlung der Stadt hatte das Leben der Familie geprägt: Bei ihnen wurden die Römer abgelehnt – ebenso wie die herodäischen Fürsten, in denen sie nur Marionetten der Römer sahen. Nicht daß sie die Fremden ablehnten, weil sie Fremde waren. Sie lehnten sie ab, weil sie Sklaverei und Unterdrückung brachten.
Was hatte Barabbas in der Wüste gesucht? Wollte er sich vor den Römem verstecken? Hatte er ein Verbrechen gegen sie begangen? Ich wußte es nicht. Nur so viel war klar: Während ich unterwegs war, in der großen Welt des Judentums eine Heimat zu finden – war für ihn die Entscheidung gefallen. Er hatte seine Heimat gefunden. Ihm ging es darum, sie gegen die verlockende Welt der Römer und Griechen zu behaupten. Er strahlte Gewißheit aus. Das zog mich an. Er wußte, was seinem Leben Sinn und Inhalt geben sollte. Ich suchte.
Unser Verhältnis zur Lehre des Bannos war verschieden. Die Botschaft von einer neuen Welt packte mich nicht bis ins Innerste. Ich hatte zu Hause gelernt, diese Welt zu lieben, Barabbas hatte gelernt, sie zu verachten. Leidenschaftlich griff er den Gedanken einer neuen Welt auf. Nur, in einem Punkt unterschied er sich von Bannos. Er sagte: Diese neue Welt kommt nicht von allein. Gott will, daß wir etwas für sie tun. Und sei es, daß wir sie mit Gewalt herbeizwingen. 28 Auch die aus Ägypten flüchtenden Juden wanderten in eine neue Welt. Aber die wurde ihnen nicht geschenkt. Sie mußten Strapazen auf sich nehmen, mußten gegen äußere Feinde kämpfen und vor Verrätern im eigenen Lager auf der Hut sein.
Obwohl Barabbas meine Sympathien hatte, schreckte ich vor dem Gedanken zurück, mit Gewalt eine neue Welt herbeizuführen. Gewalt artet aus. Gewalt korrumpiert. Was mir dennoch an Barabbas sympathisch war: Er wollte etwas tun. Er wollte nicht warten. Er war überzeugt, daß die Welt, so schlimm sie war, eine Chance bot. Mir aber fehlte die Überzeugung, daß sein Unternehmen erfolgreich sein könnte. Ich hielt es für unrealistisch. Die Römer waren zu mächtig.