In meiner gegenwärtigen Lage begann ich meine Wüstengefährten besser zu verstehen. Bannos wollte mit dieser Welt von Erpressung und Unterdrückung nichts zu tun haben. War es nicht das Beste, sie zu verlassen, ihren Schmutz und Unrat im Jordan abzuspülen? Was hatte sie anderes verdient, als daß sie unterging. Hätte ich Macht dazu, ich würde Feuer vom Himmel fallen lassen, um Pilatus und seine Soldaten zu verschlingen!
Und ich verstand Barabbas: Mußte man nicht etwas gegen die Römer tun? Mußte man sich nicht wehren? Aber war offener Widerstand nicht ein reiner Verzweiflungsakt?
Da kam mir eine neue Idee: Sollte man bei Leuten wie Pilatus nicht das schmutzige Spiel zum Schein mitspielen? Wenn Pilatus mit Erpressung arbeitete – was hatte er Besseres verdient, als daß man ihn betrog? Sollte ich nicht ja zu seinem Angebot sagen, ihm aber nur Informationen liefern, bei denen wir Juden ein Interesse hatten, daß die Römer sie besaßen? Konnte ich nicht alle anderen Informationen unterschlagen? Ja, konnte ich nicht von den Römern manches in Erfahrung bringen, womit ich meinen Landsleuten helfen konnte? Gewiß, ein schäbiges Spiel! Ein Spiel mit Betrug und Verstellung! Durfte man es mitspielen? Durfte man in der Not betrügen?
Wie war das bei Abraham gewesen? Hatte er nicht auch seine Frau als Schwester ausgegeben, damit er nicht als ihr Ehemann vom Pharao getötet wurde! 29 Das war eine Lüge gewesen. Hatte nicht Jakob mit List und Tücke den Segen ergattert – und doch war er der Gesegnete! 30 Hatte nicht David Philistern als Söldner gedient 31 – und doch war er der große König der Juden geworden! Zeigte nicht die Geschichte meines Volkes, daß nicht nur die Vollbringer edler Taten Segensträger sein konnten -, sondern die Kleinen, Verfolgten, diejenigen, die weniger um die Ehre als ums Überleben kämpften! Vollzog sich in meinem Schicksal nicht das, was meinem Volk immer wieder zuteil wurde: auf hohe Ideale verzichten zu müssen, nur um überleben und entrinnen zu können! War ich, Andreas, nicht Abraham der Flüchtling, Jakob der Verfolgte, David der Bandenführer?
Wie ich so mein Geschick in die Zusammenhänge meines Volkes einordnete, überkam mich eine große Ruhe. Ich hatte auf einmal die Gewißheit: Wenn ich auf die Erpressung des Pilatus einging, verriet ich nicht mein Volk! Denn in mir vollzog sich noch einmal das Geschick meines Volkes.
Ich lag noch lange wach. Als ich endlich einschlief, hatte ich einen Traum: Vor mir stand Pilatus in seiner purpurgestreiften Toga. Immer wieder sagte er: »Ich bin kein Unmensch! Ich bin keine Bestie!« Die Gesichtszüge des Mannes verzerrten sich. Große Zähne blitzten im Mund auf. Seine Hände ballten sich zusammen. Wo der Fingerring strahlte, wurden Krallen sichtbar. Der Leib schwoll an, bis ein riesiges Tier, ein fauchendes Ungeheuer vor mir stand, das höhnisch die ganze Welt mit seinen Pranken bedrohte und immer noch fauchte: »Ich bin kein Unmensch! Ich bin keine Bestie!«
Ich wollte davonlaufen. Aber meine Beine bewegten sich nicht. Ich kam nicht vom Fleck. Stattdessen rückte das Untier näher. Jetzt schnupperte es an meinen Füßen. Jetzt berührte es mit seinen Tatzen die Knie. Jetzt richtete es sich auf, um mir an die Kehle zu fahren. – Doch plötzlich zuckte es zusammen, duckte sich und wurde klein; es winselte und wälzte sich im Staub. All sein Stolz und seine Herrlichkeit waren verflogen, als sei es vor einer unsichtbaren Macht in die Knie gegangen, die hinter mir stand.
Ich drehte mich um. Hinter mir stand ein Mensch. Begleiter umgaben ihn. Sie brachten Bücher. In ihnen waren die Untaten des Tieres aufgeschrieben, nicht nur die Untaten des Pilatus, sondern des ganzen Römischen Reiches. Eine Untat nach der anderen wurde vorgelesen – und jedesmal winselte das Untier und wälzte sich im Staub. Am Ende fiel das Urteiclass="underline" Das Tier wurde hinausgeschafft und getötet. Der Mensch mit seinen Begleitern übernahm die Herrschaft.
Ich wachte auf. Hatte ich nicht von einem ähnlichen Traum in Büchern gelesen? Jetzt erinnerte ich mich: Es war der Traum Daniels von den vier Tieren aus dem Abgrund. 32 Aber in meinem Traum hatte ich nur das letzte Tier gesehen. Ich stutzte. Denn die vier Tiere wurden gewöhnlich auf die vier Weltreiche der Babylonier, der Meder, der Perser und Hellenen gedeutet. Der Traum sagte: Alle diese bestialischen Reiche würden keinen Bestand haben. Alle würden durch das Reich des Menschen zerstört werden – durch eine geheimnisvolle Gestalt, die vom Himmel kam und wie ein Mensch aussah.
Einige hatten das so gedeutet: Der Traum sei in Erfüllung gegangen. Nach dem Zusammenbruch der hellenischen Reiche war das Römische Reich gekommen. Es hatte Frieden gebracht, wo vorher Krieg und Zerstörung geherrscht hatte. Es war ein menschliches Reich.
Mein Traum offenbarte das Gegenteiclass="underline" Das Römische Reich war das letzte Untier. Auch dies Reich war bestialisch. Ein wirklich menschliches Reich mußte noch kommen.
Noch war ich in der Gewalt des Tieres. Aber ich wußte jetzt: Dies Tier läßt sich besiegen. Es gab etwas, das stärker war. Jetzt herrschte es zwar noch über mich. Es hatte Macht über meinen Körper, der in Fesseln lag. Aber es hatte seine Macht über mein Inneres verloren – über jenen Bereich, aus dem die Träume kommen. War es nicht meine Aufgabe, dies Reich mit List zu überwinden?
Als es Tag geworden war, ließ ich Pilatus sagen, daß ich sein Angebot akzeptiere – vorausgesetzt, Timon werde gleichzeitig freigelassen.
Sehr geehrter Herr Kollege,
vielen Dank für Ihren freundlichen Brief. Ihre Änderungsvorschläge zu Einzelheiten im Text werde ich gerne aufgreifen. Auch über Ihren Vorschlag, die ganze Erzählung nicht im Ich-Stil abzufassen, habe ich nachgedacht. Die Grenzen des Ich-Stils werden ja gerade dann spürbar, wenn die Hauptfigur im Gefängnis sitzt: Erzähler und Leser sind mit eingesperrt. Ein allwissender Erzähler, der in der dritten Person erzählt, könnte überall präsent sein. Er wäre einem Historiker vergleichbar.
Dennoch möchte ich am Ich-Stil festhalten. Gewiß weicht die Erzählung damit grundsätzlich von einer historischen Darstellung ab. Aber vergißt ein Historiker nicht allzu schnell, daß alles, was er untersucht, Handeln und Erleiden individueller Menschen zwischen Geburt und Grab ist? Alle Geschichte wird von Menschen aus begrenzter Perspektive erlebt und gestaltet. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Geschichte an sich, sondern nur perspektivisch wahrgenommene Geschichte. Auch die Sicht des Historikers ist eine Perspektive neben anderen, in der möglicherweise eine Seite der Geschichte zu kurz kommt, die man nur im Ich-Stil vermitteln kann.
Gegen Ihren Rat bleibe ich beim »Ich«. Dennoch waren Ihre Bemerkungen für mich sehr wertvoll. Darf ich Ihnen auch das vierte Kapitel schicken?
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Gerd Theißen
4. KAPITEL
Der Ermittlungsauftrag
Endlich war ich frei. Sie hatten mir einen Tag Ausgang gegeben, Timon aber festgehalten. Die letzten Tage meiner Haft waren erträglich gewesen. Zwar mußte ich in meine dunkle Zelle zurück, doch ich konnte mich waschen, erhielt dasselbe Essen wie die Soldaten und sogar neue Kleider vor meiner Freilassung. Aber erst der Schritt in die Freiheit machte aus einem zerlumpten Häftling wieder einen Menschen, in dem ich mich selbst wiedererkennen konnte. Ich ging durch die engen Straßen Jerusalems, genoß die vertrauten Geräusche und Gerüche des Marktes, beobachtete die Menschen, die sich mit mir durch die Gassen drängten: diese Mischung aus Pilgern, Händlern, Bauern, Priestern und Soldaten, die das Bild der Stadt unverwechselbar prägte.