Wie gut tat es, wieder die Sonne zu sehen! Ich spürte das Licht am ganzen Körper. Es überströmte Gesicht und Hände. Es schwebte als Farbe und Schatten durch den Raum. Es rieselte als Wärme auf die Erde. Mir war, als steckte in allen Dingen eine stumme Freude, die darauf wartete, daß jemand ihr Ausdruck verlieh. Und so murmelte ich unhörbar – fast ohne meinen Willen:
Herr, unser Gott,
die Himmel strahlen deine Schönheit wider,
und die Erde ist dein Echo,
jedes Staubkorn deine Wohnung,
jeder Tag dein Fest.
Alle Dinge sind schön durch dich.
Ihre Sprache ist ohne Worte.
Alles lobt dich mit unhörbarer Stimme.
Dort zieht die Sonne dahin,
verliebt in die Farbenpracht der Erde,
umgeben von Planeten.
Nichts bleibt ihr verborgen.« 33
Doch schon am nächsten Tag holte mich die Wirklichkeit ein: Ich hatte mich auf ein riskantes Unternehmen eingelassen, um die Sonne wiederzusehen. Das ging mir spätestens auf, als ich jenem Offizier gegenüberstand, der mich beim ersten Mal verhört hatte. Metilius war sein Name.
»Andreas, ich freue mich, daß du mit uns arbeitest«, begann er, »kommen wir gleich zur Sache. Wir wünschen Informationen über einige seltsame Leute. Sie nennen sich Essener und wohnen in der Wüste.« Er rollte eine Karte auf dem Tisch auf und zeigte auf die nordwestliche Ecke des Toten Meeres:
"Kennst du diese Gegend?«
Ich wurde unsicher. Denn nicht weit entfernt vom Toten Meer hatte ich bei Bannos ein Jahr lang gelebt. Ich zog es vor, den Unwissenden zu spielen. Vielleicht konnte ich Dinge, die ich schon jetzt wußte, später als mühsam recherchierte Auskünfte verkaufen. Ich sagte also nur:
»Ich kenne das Gebiet nur flüchtig.«
»Hier gibt es eine Oase, in der die Essener ihr Zentrum haben. Die uns im Augenblick vorliegenden Berichte stammen von römischen Touristen. Danach sollen die Essener dort ohne Frauen, ohne Nachwuchs, ohne Privatbesitz leben, von Palmen umgeben, am Ufer des Toten Meeres. Immer wieder sollen Leute zu ihnen stoßen, die der Ekel vor dem normalen Leben gepackt hat oder deren Lebensmut durch Schicksalsschläge gebrochen wurde. 34 Schau dir diese Heiligen einmal an. Sie sollen friedfertig sein, keine Waffen benutzen, keinen Eid schwören, die Sklaverei ablehnen, streng auf die Einhaltung aller religiösen Gebote achten. 35 Uns interessiert: Was sind das für Leute, die sich aus dem normalen Leben zurückgezogen haben? Was hat sie bewegt, in die Wüste zu gehen? Schicksalsschläge? Lebensüberdruß? Oder verkriecht sich da mancher, der sich uns entziehen will, weil er etwas verbrochen hat? Kann man den Berichten glauben, daß diese Leute prinzipiell friedfertig sind? Über all das sollst du Informationen sammeln!«
»Das ist fast unmöglich. Die Essener geben Außenstehenden keine Auskünfte. Sie haben einen Eid geschworen, alles, was ihre Gemeinschaft betrifft, geheim zu halten. 36 Das ist bekannt. Selbst wir Juden wissen nicht viel über sie.«
»Um so wichtiger ist es, daß wir Material über sie erhalten. Wer weiß, was sie alles geheimhalten – möglicherweise nicht nur religiöse Geheimnisse.«
»Es wird schwer sein, an sie heranzukommen.«
»Wir wissen, daß es neben den Leuten am Toten Meer Essener gibt, die im Land verstreut leben. Vielleicht kann man von ihnen etwas erfahren.« 37
»Ich werde es versuchen. Aber man muß bedenken, daß die verstreut lebenden Essener möglicherweise nicht in alle Geheimnisse eingeweiht sind.«
»Etwas wird man bestimmt herausbekommen. Selbst bis zu uns sind einige Informationen gedrungen. Jerusalemer Priester haben uns erzählt, die Essener lehnten den jetzigen Tempelkult und die amtierenden Priester ab. Und das soll so gekommen sein: Vor ca. 200 Jahren wurde ein Hoherpriester aus zadokidischem Haus von einem Emporkömmling aus dem Amt gedrängt. Aus Protest zog er sich in die Wüste zurück, fand dort ein paar Außenseiter, aus denen er die essenische Gemeinde schuf – als Ersatz für den Tempel, in dem er nicht mehr amtieren konnte. 38 Dieser Punkt interessiert uns. Wie stark ist diese Opposition gegen den Tempel und die etablierte Priesterschaft? Findet sie Unterstützung in der Bevölkerung? Kann man die Essener gegen die Hohenpriester ausspielen? Oder werden sie im Konfliktfall auf seiten der priesterlichen Aristokratie stehen?
Wir wissen ferner: Die Essener haben Herodes unterstützt. Ein essenischer Prophet namens Menahem hat ihm die Herrschaft geweissagt, als er noch kein König war. 39 Herodes hat diese Weissagung immer wieder zitiert. Er stammte ja nicht aus königlichem Haus. Die Weissagung legitimierte sein Königtum.
Ich frage mich nun: Haben die Essener Herodes unterstützt, weil er die Macht der Hohenpriester beschnitten hat – also die Macht ihrer Gegner? Wie stehen sie zu den herodäischen Fürsten? Muß man damit rechnen, daß sie einmal einen der jetzigen Herodäer durch Weissagung zum ›König‹ befördern? Über all das brauchen wir Informationen.
Das Stichwort ›Prophet‹ bringt mich auf den zweiten Komplex: Wir wollen über einen Propheten Auskunft haben, der mit den Essenern in Verbindung stehen könnte. Er wohnt wie sie in der Wüste – nur ein paar Kilometer nördlich von ihnen.«
Ich bekam einen tödlichen Schreck. Wollten mich die Römer auf Bannos ansetzen? Ich fragte vorsichtig:
»Was interessiert euch denn an dem?«
»Er interessiert uns, weil er nicht nur in grundsätzlicher Opposition zur Gesellschaft steht, sondern in Opposition zu Antipas.«
Konnte das Bannos sein? Opposition zur Gesellschaft – das traf zu. Aber was hatte er mit Antipas zu schaffen? Um sicherzugehen fragte ich weiter:
»Was hat er denn gegen Antipas?«
Metilius machte eine Handbewegung, die wohl sagen sollte: Da gibt es unendlich viel zu erzählen. Und sprudelte los:
»Du weißt vielleicht, daß die Beziehungen zwischen Pilatus und Herodes Antipas, dem Fürsten von Galiläa und Peräa, nicht die besten sind. 40 Palästina wurde nach dem Tod Herodes des Großen unter drei Söhne aufgeteilt, von denen Archelaos den größten Teil, nämlich Judäa und Samarien erhielt. Archelaos wurde nach zehn Jahren abgesetzt. An seine Stelle trat ein römischer Präfekt. Natürlich hatten die beiden anderen Herodessöhne, Antipas und Philippus, gehofft, das Erbe des Archelaos anzutreten. Besonders Antipas, der schon einmal als Gesamterbe vorgesehen war, war enttäuscht. Seitdem benutzt er jede Gelegenheit, um zu zeigen, daß die römischen Präfekten das Land schlecht regieren und er es viel besser könne, da er mit den jüdischen Sitten und Empfindlichkeiten vertraut sei. Alles Negative über Pilatus meldet er an den Kaiser weiter.
Pilatus hat das schon zu spüren bekommen. Du hast gewiß von jenem Konflikt um die Schilder gehört, auf denen die Anfangsbuchstaben des Kaisers eingraviert waren. Pilatus hatte sie nach Jerusalem gebracht und in der Burg Antonia aufgehängt, in der die Kohorte ihren Dienst tut. Es war schwer einzusehen, wieso dadurch das Bilderverbot verletzt oder dem Kaiser göttliche Verehrung erwiesen wurde. Dennoch gab es Proteste – angeführt von Herodes Antipas, der die Rolle des Verteidigers jüdischen Glaubens spielte. Man verstieg sich zu der Behauptung, es handle sich um eine demonstrative Verletzung des jüdischen Gesetzes. Sie zeige wieder einmal, wie wenig Pilatus von der jüdischen Religion verstünde. Antipas erhob förmlich Einspruch beim Kaiser. Pilatus erhielt von oben den Befehl, die Schilder zu entfemen. 41 Das hat er dem Antipas nie verziehen. Zumal wir inzwischen durch dich wissen, daß Antipas es mit dem Gesetz nicht so genau nimmt, wenn man an seine Tierbilder in Tiberias denkt. Aber nicht nur das. Er heiratete die Frau seines Bruders noch zu dessen Lebzeiten. Das war wieder ein Verstoß gegen euer Gesetz. Es gab Kritik. Aber was macht Antipas? Er sperrt den Kritiker ein, einen Mann namens Johannes, einen Heiligen, einen Propheten, der in der Wüste am Jordan wirkte. So etwas haben selbst wir Römer uns bisher nicht erlaubt. Man sagt, dieser Johannes habe großen Anklang beim Volk gefunden. In unseren Akten findet sich über ihn aber nur eine sehr allgemeine Darstellung. Ich lese sie einmal vor: