«Wäre er ein Jahrhundert früher geboren«, sagte ich,»er hätte wahrscheinlich eine Unmenge von Briefen geschrieben.«
«Telefonieren ist nicht Briefeschreiben mit anderen Mitteln«, wehrte er ab.»Ein Brief ist mehr als bloß ein Ersatz für ein Gespräch. Telefonieren aber ist immer nur Ersatz und nichts weiter.«
«Und der Ersatz hat Ihnen genügt?«fragte Frau Mungenast.
«Ich war verrückt danach.«
Der Schutzengel gab Leuten, die schwitzten, nicht die Hand; er konnte Körpergerüche nicht ausstehen; er mochte es nicht, wenn laut geredet wurde; und wenn jemand gestikulierte, weil ihn vielleicht die Leidenschaft bei einem Thema packte, wich er zurück. Er war der erste, den ich kannte, der sich ein Mobiltelefon zulegte — er hatte es sich aus Hongkong schicken lassen, ein wuchtiges Ding in der Form einer in ihrer Innenwölbung flachgeschabten Gurke. Er unterhielt Bekanntschaften in der weiten Welt, führte stundenlange Ferngespräche, diskutierte mit einem Kollegen auf der anderen Seite des Globus über einen Artikel in Nature oder Science oder über das gescheiterte Sozialprogramm der Clinton-Regierung oder über Vladimir Putin — den er beharrlich» Stalin im Schafspelz «nannte —; las einem Freund aus Churchills Geheimreden oder Stellen aus Henry Kissingers Memoiren vor, die er sich angestrichen hatte, oder ließ sich, während er im Lehnstuhl saß, die langen Beine weit von sich gestreckt, die Füße auf dem mit weinrotem Leder überzogenen Schemel, den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, die letzte Schallplatte von Sidney Bechet zur Gänze vorspielen; oder legte ein anderes Mal den Hörer zwischen die Lautsprecher seines alten Dual-Plattenspielers oder später seines CD-Players, wenn er auf etwas Vergessenes in seiner Sammlung gestoßen war, das er irgend jemandem in London, Lissabon, Hamburg, Wien, New York oder Paris vorspielen wollte. Seine Telefonrechnungen müssen schwindelerregend hoch gewesen sein.
Vor fünfundzwanzig Jahren, als ich in Frankfurt studierte, und auch später, als ich mein Studium beendet hatte, hatte er mich jede Woche angerufen. Wenigstens einmal. Manchmal war Dagmar am Apparat. An der Art, wie sie lachte, merkte ich, daß sie mit ihm sprach. Sie hat mir nie mitgeteilt, was er ihr erzählte, was sie zum Lachen brachte.»Du gurrst«, sagte ich. Sie sagte:»Ich tue so, als ob ich gurre, das ist der Unterschied. Und er tut so, als ob er mit mir flirtet. «Seine Stimme war die Stimme eines jungen Mannes, das beeindruckte sie. Sie wollte nicht glauben, daß dieser alte Mann, der nicht einmal verwandt mit mir war, solchen Anteil an meiner Person nahm. Ich habe ihr nur wenig aus der Geschichte unserer Familie erzählt. Für sie war klar, daß er ihretwegen anrief.
Nach dem Tod meines Vaters telefonierten Carl und ich eine Zeitlang sogar täglich miteinander. Später, als ich in New York war, pendelten sich die Anrufe wieder auf einmal pro Woche ein. Ich wollte in Amerika ein neues Leben beginnen. Mitten auf einer Straße in Brooklyn beschloß ich, nie wieder nach Deutschland oder Österreich oder sonst irgendwohin in Europa zurückzukehren, und nicht etwa meine Mutter habe ich von diesem Entschluß als erstes in Kenntnis gesetzt, sondern Carl. Ich rief ihn von einer Telefonzelle aus an. Ich hatte auf den Bus gewartet und zugesehen, wie das Gerät von Angestellten der Postgesellschaft montiert wurde. Ich wechselte in dem koreanischen Restaurant daneben zwei Scheine gegen Münzen und war der erste Mensch, der diesen Apparat benutzte. Während ich sprach, standen die Monteure um mich herum und lachten und applaudierten. Carl fragte mich:»Wie willst du damit beginnen?«Diese Frage brachte mich durcheinander. Es ist eine vernünftige Frage; aber wenn du jemandem mitteilst, daß du dich soeben entschlossen hast, ein neues Leben zu beginnen, rechnest du mit einem Warum, aber nicht mit einem Wie. Ich selbst war mir ja nicht einmal sicher, ob es vielleicht nicht doch nur eine Flause war, zusammengesetzt aus dem Laubgeruch der Allee und den Polizeisirenen und den verschiedenen Rassen auf der anderen Seite des Zebrastreifens und dem blauen Himmel über der Hauptstadt der Welt; aber Carl war sich sicher, daß es keine Flause war. Kaum hatte ich den Satz von meinem neuen Leben ausgesprochen, hatte er dieses neue Leben bereits akzeptiert. Und da antwortete ich ihm:»Indem ich dich bitte, mich eine Zeitlang nicht mehr anzurufen. «Und auch das akzeptierte er ohne Warum. Er sagte:»Melde du dich. «Und sagte nichts weiter. Wartete, daß ich auflegte. Das Auflegen überließ er mir. Ich hatte ihn nicht brüskieren wollen; aber nun war es aus dem Herz und aus dem Mund, und dieser kleine Satz hatte zur Folge, daß wir zum erstenmal fast zwei Jahre lang nichts mehr voneinander hörten. Carl sagte dazu:»Deine tintendunklen amerikanischen Jahre. «Was mir, weil ich diese Zeit vor mir selbst bis in die Tinte hinein gleich formuliert hatte, einerseits unheimlich war und was andererseits wieder einmal den hoffnungslosen Gedanken in mir auftrieb, ein Geschöpf dieses Mannes zu sein, und nicht nur ich, sondern auch mein Vater, meine Mutter, mein Sohn …
«Ich telefoniere nicht gern«, sagte Frau Mungenast.»Ich sehe ja das Gesicht nicht. Es kann ja einer etwas Freundliches sagen, aber dabei sein Gesicht gemein verziehen. «Sie erhob sich. Sie wolle uns noch etwas für den Abend herrichten, sagte sie. Ob ich ihr in der Küche helfen könne, fragte ich. Sie sagte, sie werde in den nächsten Tagen mit Sicherheit auf mein Angebot zurückkommen. Wir hörten, daß sie in der Küche das Radio einschaltete; erst Schlagermusik vom Regionalsender, dann klassische Musik.
Carl nickte und starrte auf einen Fleck und schien mit dem Nicken nicht mehr aufhören zu wollen, und das sah traurig aus. Er trug seinen grünen, in den Falten schimmernden Morgenmantel, über dem Knoten des Gürtels hielt er mit beiden Händen die Teetasse über dem eingesackten Bauch. Ratlosigkeit breitete sich in seinem Gesicht aus, und es wurde leer, auch die Traurigkeit ging darin unter. Als wäre der Mann für Minuten aus der Welt gerückt. Kein Leben war mehr in ihm. Und so blieb es eine Weile.
«Wir beide und das Telefon!«spielte ich einen nostalgischen Seufzer, um ihn zurückzuholen.»Das ist schon ein eigenes Kapitel, stimmt’s!«
Er leckte sich die Lippen und schickte mir einen strafenden Blick zu. Ich hatte in einer Lautstärke mit ihm gesprochen, als wäre er nicht mehr bei Sinnen. Schließlich sagte er langsam, kontrolliert und betonte jedes Wort:»Je älter ich wurde, desto mehr differenzierten sich meine Sinnesorgane.«
Und das war der erste Satz, den ich in C.J.C. 1 notierte.
Auch früher schon hatte ich mir Formulierungen von ihm aufgeschrieben, wenn er zum Beispiel jemanden charakterisierte — worin er meisterlich war — oder wenn er ausgreifende Zusammenhänge in wenige Worte faßte — worin er ebenfalls meisterlich war —; aber ich hatte es nie vor seinen Augen getan; ich hatte mir die Wendungen gemerkt und sie später, wenn ich allein war, aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Ich hatte vor ihm nicht als sein Eckermann erscheinen wollen. Nun war ich sein Eckermann, und meine Aufgabe bestand unter anderem darin, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden. Diesen Satz stufte ich als wesentlich ein. Er hatte an der Universität Mathematik gelehrt, Logik verehrte er wie andere den lieben Gott; wenn er also nach reiflichem und, wie ich es verstehen mußte, bewegtem Nachdenken einen Begriff wie differenzieren gebrauchte, so durfte ich getrost davon ausgehen, daß er ihn nicht allein im umgangssprachlichen Sinn von trennen und unterscheiden verwandte … sondern? — Verhemmt waren wir an diesem ersten Abend, weiß Gott! Meine Güte! Beide. Und beiden war uns bewußt, wodurch diese Verhemmtheit ausgelöst wurde: Zum erstenmal wollte er etwas von mir. Ich sah ihm an, was er dachte: ob es wirklich ein kluger Entschluß gewesen war, mich zu bitten, über ihn zu schreiben. Und ich nehme an, er ahnte auch meine Zweifel, nämlich ob ich mir das zutraute, ob ich das auch wirklich wollte: sein Leben erzählen. Am Abend in meinem Zimmer oben unter dem Dach schrieb ich unter den Satz: Sinnesorgane sind veränderliche Größen, die in ihrem Wert von anderen Größen abhängig sind, und weil sich C.J.C. im Laufe seines Lebens mehr aufs Hören konzentriert hat als aufs Sehen, kann er mit dem Ohr mehr Feinheiten wahrnehmen als mit dem Auge. Der Witz dabei ist, daß er zwar nie eine Brille nötig gehabt hatte, wohl aber ein Hörgerät. — Der eigentliche Witz bestand freilich darin, daß ich wegen so eines simplen Satzes so harzige Gedanken in meinem Gehirn herumschob, nur weil diesem Satz eine längere Pause vorausgegangen und Carl dabei so melancholisch geschaut hatte, was wahrscheinlich auf nichts anderes als auf eine Absence zurückzuführen war. Mit meinen einundfünfzig Jahren war ich immer noch der übereifrige Adept und er mein Meister! (Manchmal allerdings war ich auch ein Ketzer gewesen. Aber das ist ja nur die Kehrseite der Medaille.) Ich ärgerte mich über mich selbst. Und am meisten ärgerte ich mich, weil ich ihn in meinem Kommentar C.J.C. nannte, als wäre er ein Wesen, dessen Name auszusprechen eine Sünde ist … — Ich merke, auch ein Jahr nach seinem Tod kann ich noch immer nicht über ihn sprechen, ohne mich zu empören; aber auch nicht ohne die Ehrfurcht, die ich stets vor ihm empfunden habe; und natürlich nicht — natürlich nicht! — ohne Liebe. Will ich warten, bis Ärger, Bewunderung und Liebe nüchterner Distanz weichen, werde ich wohl nie über C.J.C. schreiben können.