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«Warten wir, bis Frau Mungenast fertig ist«, sagte er.»Mir wäre am liebsten, man würde überhaupt keine Musik hören in der Küche. Aber das darf man nicht verlangen. Man soll kein Tyrann sein. Alle sagen, Musik passe gut in eine Küche. Ich finde das nicht.«

6

Meine erste Erinnerung — weil mich Carl danach gefragt hat (und weil du, David, mir von deiner ersten Erinnerung erzählt hast):

Ein Familiennachmittag in den Donauauen — Vater, Mutter, Carl, Margarida, ich. Wir haben einen roten Sonnenschirm mit einer Metallspitze in die Wiese gerammt und darunter Decken ausgebreitet. Ein Korb wie eine Schatztruhe mit einem gewölbten Deckel steht da, in ihm sind die guten Sachen verstaut, Tomaten und Gurken zum Beispiel. Ich sehe Carl und meine Mutter im Wasser stehen, Carl bis zum Bund seiner Badehose, meine Mutter bis zu den Waden. Sie trägt einen weißen, einteiligen Badeanzug und drückt die Schultern nach hinten. Carl ruft mich zu sich. Ich laufe barfuß über die Wiese, tauche meine Füße ins Wasser. Meine Mutter hält mich an der einen Hand, Carl an der anderen. Carl will mir das Schwimmen beibringen. Er ruft: Laß dich fallen, Sebastian! Meine Mutter streift meine Hand von ihrem Finger. Das Wasser reicht mir nun bis zum Bauch. Ich lasse mich fallen. Carl fängt mich auf. Ich liege auf seinen Händen, sie breiten sich unter meinem Bauch und meiner Brust aus. Er trägt mich durch das Wasser, hebt mich hoch, senkt mich ab. Ruft:»Hui, hui! Hui, hui!«Dreht sich dabei im Kreis. Margarida kommt dazu. Ich habe keine Angst vor dem Wasser, aber ich strecke meine Hände nach ihr aus. Sie nimmt mich auf den Arm. Ich rieche Sonnenöl.

«So sieht deine erste Erinnerung aus?«fragte Carl.»Oder willst du mir nur etwas Liebes sagen? Daß ausgerechnet ich am Beginn deiner bewußten Wahrnehmung stehe? Wir waren oft in den Donauauen, wir vier und du. Wo ist dein Vater? Kommt er in deiner ersten Erinnerung nicht vor?«

Nein, er kommt nicht vor.

Eine andere Erinnerung an einen gemeinsamen Badenachmittag hat mehr Gewicht. Es war in dem Sommer gewesen, bevor ich in die Schule kam. Carl und Margarida wohnten bereits in Innsbruck, die Semesterferien aber verbrachten sie in Wien. In den ersten Jahren nützten sie jede Gelegenheit, um nach Wien zu fahren — Ostern, Pfingsten, Allerheiligen, Weihnachten natürlich. Margarida fand Innsbruck langweilig, sie tat sich schwer, dort Menschen kennenzulernen. Auch bei Carl dauerte es lange, bis er sich mit der Stadt anfreundete. Wenn sie in Wien waren, besuchten sie uns, und wir besuchten sie, sie luden uns zum Plachutta in der Wollzeile ein oder ins Sacher oder ins Bristol (das Imperial wollte meine Mutter nicht betreten). Oder meine Mutter kochte, was sie besser konnte als Margarida und, wie Carl sagte, besser als alle Haubenköche Wiens zusammen; an diesen Abenden saßen wir eng beieinander um unseren Küchentisch in der Penzingerstraße, ich zwischen Carl und Margarida; das war mir viel lieber als diese Restaurantbesuche, bei denen ich mein Sonntagsgewand anziehen mußte. Wann immer ich Lust dazu hatte, durfte ich am Rudolfsplatz übernachten. Am liebsten schlief ich in einem der kleinen Zimmer im Dachboden; weil ich mich aber auch ein wenig fürchtete, legte sich Margarida zu mir.

Als mir mein Vater diesmal mitteilte, daß Carl und Margarida nach Wien kommen, brach ich in Tränen aus und setzte mich auf den Küchenstuhl, weil mir die Knie schwach wurden und die Hände zu zittern begannen. In unserer Wohnung in der Penzingerstraße herrschten die berühmte Bedrücktheit und die berühmte Gekränktheit, diesmal despotischer als jemals zuvor. Mein Vater war bedrückt, weil er das Saufen nicht lassen konnte, meine Mutter war gekränkt, weil er das Saufen nicht lassen konnte, was wiederum meinen Vater kränkte, was wiederum meine Mutter bedrückte. Sie schafften es nicht, einander in die Augen zu blicken. Sie drehten sich zur Seite, wenn der andere die Küche betrat. Und schließlich bildete ich mir ein, sie brachten es nicht einmal mehr über sich, im selben Moment mich anzusehen. Als hielten sie die Aura nicht aus, in die mich der Blick des jeweils anderen hüllte. Ich fürchtete, meine Mutter könnte sich plötzlich umdrehen, mitten in sein Gesicht schauen und sagen: Georg, wir müssen darüber reden. Manchmal ging ein Ruck durch ihren Körper, ihr Mund wurde noch schmaler; ich habe schnell etwas gesagt, bin ihr ins Wort gefallen, noch bevor das Wort einen Ton gefunden hatte. Dieses Wir-müssen-darüber-reden-Georg würde nur eines bedeuten, davon war ich überzeugt, nämlich: Es ist Schluß, Georg. Es ist aus, Georg. Es ist vorbei, Georg. Ich geh. Die Gekränktheit und Bedrücktheit meiner Mutter konnte ich gut nachvollziehen; aber nicht verzeihen. Es war mir nicht gelungen, zu verhindern, daß mein Vater heimlich trank. Das verzieh ich mir nicht. Ich hatte es versucht. Ich hatte mit ihm gesprochen. Ich hatte gesagt:»Bitte, Papa, trink nicht soviel!«Ich hatte mich auf diesen Satz vorbereitet. Hatte mir ein Gesicht für diesen Satz eingeübt. Das Gesicht eines geschlagenen Kindes. Mein Verstand und mein Instinkt, die beide eins waren und deshalb so scharf, sagten mir, ein Erwachsener kann gegen so ein Gesicht nichts ausrichten; also wird er aufhören zu trinken. Aber er trank weiter. Wie sollte ich verhindern, daß sich meine Mutter umdrehte und ihrem Mann mitten ins Gesicht blickte? Obwohl ich mir doch genau das wünschte.