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Wenn Carl bei uns war oder Margarida, vor allem aber, wenn sie uns gemeinsam besuchten, löste sich der Spuk schon in den Begrüßungsworten auf, und nichts, gar nichts blieb übrig. Unser Schutzengel lehnte sich gegen den Türpfosten, schob sich die bubenhaft blonden Haare aus der Stirn, lächelte auf seine ökonomische Art, duftete nach Seife und Rasierwasser und ein wenig nach Tabak, duftete gegen die Waschküche an, deren Tür sich nicht schließen ließ und aus der es nach Zement und Waschpulver und unserer schmutzigen Wäsche roch. Mein Vater sagte:»Essen wir etwas!«Er glaubte, wenn man nur äße, als wäre alles normal, würde alles normal werden. Ein Tisch hat vier Seiten, wenn Carl und Margarida uns besuchten, waren die Lücken geschlossen; ich fand dazwischen Platz. Alles war gut. Meine Eltern taten, was sie, wenn sie allein mit mir waren, nie taten: Sie umarmten sich, sie küßten sich, meine Mutter setzte sich auf den Oberschenkel meines Vaters und legte ihre Hand an seine Wange; und mein Vater wickelte ihr Haar um seinen Finger, so gedankenverloren, wie man es tut, wenn man es oft tut. Vor allem aber: Sie blickten einander in die Augen, wenn sie sprachen, und ich hatte den Eindruck, sie blickten einander gern in die Augen. Meine Mutter schenkte ihrem Mann Wein ein, er trank; ohne sich zu schämen, trank er; er trank nicht mehr und nicht weniger, als die anderen tranken; niemand machte ihm Vorwürfe … — Deshalb mußte ich weinen, als mir mein Vater mitteilte, daß Carl und Margarida aus Innsbruck kommen und über den Sommer in Wien bleiben: weil ich wußte, nun würde die Last von mir genommen. Für den Rest der Ferien würden Carl und Margarida unserer Familie ein Gerüst geben, und wann immer es mir gefiele, würde ich in die 71er steigen und bis zum Ring fahren und dann über den Heldenplatz zur Freyung und durch den Tiefen Graben zum Rudolfsplatz gehen.

«Erinnerst du dich an den Nachmittag im Sommer, als dieses Gummilager in Simmering abgebrannt ist und eine riesige schwarze Rauchwolke über der Stadt hing?«fragte ich Carl.»Da waren wir auch in den Donauauen gewesen. Du, Margarida, Papa und ich. Mama war nicht dabei, sie mußte arbeiten. Und auf einmal bist du verschwunden. Wir haben dich gesucht. Den ganzen Nachmittag haben wir dich gesucht.«

«Ich bin verschwunden? Plötzlich? Wie meinst du das?«fragte er.

Ich hörte an seinem Tonfall, daß er genau wußte, was ich meinte, weil er sich ebenso gut an diesen Nachmittag erinnerte wie ich. Aber er sagte:»Davon weiß ich nichts. Und an eine Rauchwolke über Simmering erinnere ich mich auch nicht.«

Carl und ich waren bis zu der Plattform geschwommen, die ein Stück weit draußen über leeren Ölfässern errichtet und verankert worden war. Dort wollten wir über die schlammige Metalleiter auf die Planken klettern und mit einem Köpfler ins Wasser springen. Ich rief über die Schulter Margarida und meinem Vater zu, sie sollen schauen. Ich hatte vor, einen Salto vorwärts zu probieren. Margarida lehnte mit dem Rücken an der Stange des Sonnenschirms, mein Vater lag auf der Decke und hatte seinen Kopf in ihrem Schoß. Kaum war Carl auf die Plattform gestiegen, sprang er auch schon wieder ins Wasser und schwamm mit breiten Zügen ans Ufer zurück. Ich sah, wie er auf Margarida und meinen Vater zuschritt, langsam, in einem ruhigen Rhythmus, Wassertropfen glitzerten auf seinem braunen, sehnigen Körper; sah, wie er sich niederbeugte, seine Kleider vom Boden aufnahm und mit ihnen in Richtung der Umkleidekabinen davonging. Ich dachte, er will bei dem italienischen Stand hundert Meter weiter vorne Eis holen für uns alle, und ich wunderte mich auch nicht, daß er dafür seine Kleider mitnahm, es war nicht seine Art, in Badehose unter die Leute zu gehen, auch wenn diese Leute ihrerseits nichts weiter als Badehosen und Badeanzüge trugen. Ich war enttäuscht, daß mir keiner bei meinem Salto zusehen wollte, ich bin an Land geschwommen und habe mich in die Sonne gelegt, um mich aufzuwärmen.

Margarida und mein Vater nahmen keine Notiz von mir. Sie sprachen über das Trinken. Auch Margarida, bekam ich mit, habe ein Problem mit dem Trinken. Ein Problem mit dem Trinken und ein Problem mit dem Rauchen, sagte sie. Am Montag sei es das Trinken, am Dienstag das Rauchen, am Mittwoch wieder das Trinken und am Freitag wieder das Rauchen und am Wochenende beides. Sie lachte, und mein Vater lachte mit. Ich fragte, was am Donnerstag sei; aber keiner gab mir eine Antwort. Am Abend zuvor hatten wir in einem Restaurant in der Innenstadt Margaridas neununddreißigsten Geburtstag gefeiert und waren hinterher noch lange am Rudolfsplatz zusammengesessen. Mein Vater hatte auf der Gitarre gespielt und gesungen; bei manchen Stücken hatte ihn Carl auf dem Klavier begleitet; meine Mutter hatte ein Lied gesungen, auch Margarida hatte ein Lied gesungen, einen Fado aus Lissabon oder ihrer Heimatstadt Coimbra. Sie hatten Wein getrunken, aber betrunken war keiner von ihnen gewesen; am ehesten noch meine Mutter, weil sie keinen Alkohol vertrug. Ich hatte nie für möglich gehalten, daß Margarida eine Säuferin sei, wie mein Vater ein Säufer war. Auch daß sie zuviel rauchte, war mir nicht aufgefallen. Damals haben alle Erwachsenen geraucht. Ich kannte keine Frau, die so eine dunkle Stimme hatte wie Margarida. Sie sah auch ein bißchen wie ein Mann aus mit ihren starken, dunklen Augenbrauen, den gelben, überlangen Zähnen, ihrem großen Kopf mit den unfrisierbaren Haaren, der so gar nicht auf ihren schmächtigen Körper paßte. Mein Vater war sechs Jahre jünger als sie, aber aus seinem Gesicht hätte man auf gut zehn Jahre mehr geschlossen. Das Verhältnis von Kopf zu Körper war bei ihm ähnlich wie bei Margarida: ein harter, männlicher Schädel, das Gesicht im Gegensatz zu ihrem allerdings so gut wie immer ernst und humorlos, der Körper ebenso zierlich und die Haut käsig. Mein Vater, den Kopf immer noch in ihrem Schoß (vielleicht hatte er gar nicht mitbekommen, daß ich neben ihnen im Gras lag), sprach in ruhigem, besonnenem, einsichtigem Ton über sein Problem. Er wolle sich noch eine Chance geben, aus eigener Kraft vom Saufen wegzukommen; wenn er das nicht schaffe, werde er sich einer Kur unterziehen. Margarida sagte:»Dann gehen wir miteinander, Georgie. Ist das gut?«Mein Vater verrenkte seinen Arm, erwischte ihre Hand am Daumenballen und sagte:»Das ist gut.«

Ein wenig war ich traurig. Denn genau so ein Gespräch hätte ich mir gewünscht, als ich ihn gebeten hatte, nicht mehr zu trinken. Aber mit einem Siebenjährigen führt ein Alkoholiker kein solches Gespräch, vor allem nicht, wenn der Siebenjährige sein Sohn ist. Sondern er brüllt. Und lügt. Zum Beispiel brüllt er:»Du behauptest also, ich trinke? Gut, dann trinke ich eben! Siehst du diese Flasche? Die trinke ich jetzt aus. Du hast gesagt, ich trinke, also trinke ich. In einem Zug trinke ich diese Flasche jetzt aus. Und wenn sie leer ist, weißt du, was ich dann mache? Dann fresse ich sie auf. Du weißt sicher, was Glasscherben im Magen eines Menschen anrichten? Du weißt es. Du weißt ja alles. «An diesem Nachmittag in den Donauauen dachte ich: Am besten wäre es, wenn mein Vater und meine Mutter sich trennten und Carl und Margarida sich ebenfalls trennten und wenn mein Vater und Margarida sich zusammentun.

Schließlich wurden Margarida und mein Vater unruhig, weil Carl nicht zurückkam. Sie schickten mich los; aber ich wußte nicht, wo ich ihn suchen sollte, und trottete zwischen den Liegestühlen und Sonnenschirmen herum und war unglücklich und rief leise seinen Namen, halb hoffend, er hört mich, halb hoffend, er hört mich nicht, weil ich dachte, es wäre ihm bestimmt unangenehm vor all den Leuten, wenn ich seinen Namen rufe. Die schwarze Rauchwolke am Himmel, die sich inzwischen bis zu uns herüber ausgebreitet hatte, war mir wie ein Vorzeichen zu etwas Schrecklichem. Auch wenn ich es besser wußte, ich brachte sein Verschwinden mit mir in Verbindung, daß ich Schuld daran hatte; daß er es mit mir nicht mehr ausgehalten hatte; daß ich mich zu sehr auf ihn gefreut, mich zu lästig an ihn gehängt hatte; daß er all das, was ich ihm auflastete, weil ich es wenigstens für die Zeit der Sommerferien nicht tragen wollte, ebenfalls nicht tragen wollte.