Am Abend fuhr ich mit Margarida erst mit dem Bus und vom Praterstern mit der Straßenbahn in die Stadt zurück. Ich weiß nicht, warum mein Vater nicht mit uns fuhr. Vielleicht hatte er etwas zu tun. Oder sie hatten sich getrennt — mein Vater sollte in der Penzingerstraße auf Carl warten, Margarida am Rudolfsplatz.
Carl saß an seinem Schreibtisch und rührte sich nicht, als wir sein Arbeitszimmer betraten. Margarida sagte zu mir, ich solle im Salon warten, sie müsse mit Carl reden. Ich stellte mich hinter die Tür und lauschte. Was ich hörte, erschütterte mich so sehr, daß ich davonlief — hinaus aus dem Haus, durch die Innenstadt und über die Mariahilferstraße hinauf bis zum Westbahnhof und weiter in die Penzingerstraße, und dort schloß ich mich in meinem Zimmer ein. Ich hatte Carl jammern hören. Ich hatte nicht verstanden, was er sagte, dazu war die Tür zu massiv. Außerdem sprachen die beiden — wie immer, wenn sie allein waren — portugiesisch. Nur seinen weinerlichen Ton hatte ich gehört: ein kleinliches, klägliches Quengeln. Ich benötigte lange, um wieder mein Lot zu finden; und noch ein Stück länger, um meinen Helden in mir wieder aufzurichten — wenigstens zu Lebensgröße.
7
Bei unserem letzten Spaziergang hinunter zum Lansersee dachte ich, er stirbt. Jetzt. Hier. Im Schneegestöber. Über den Bäumen konnte ich den sanften Gipfel des Patscherkofels sehen. Carls Blick weitete sich auf einmal, er hielt nichts mehr um ihn herum fest. Wenn ich mich überwinde und ihn an mich drücke, dachte ich, dann stirbt er in meinen Armen. Mitten in den kleinen Gesang seines Atems hinein flüsterte er, als hätte er noch eine weitere Stimme zur Verfügung:»Lieber Gott, zeig mir den Weg, ich will ihn gehen!«Ich habe es gehört, und mir ist augenblicklich schlecht geworden. Nichts an diesem Mann ließ darauf schließen, daß ihm jemals etwas Tragisches zugestoßen sein könnte, und dennoch sah er nun aus, als gäbe es keine Unbill, die zu ertragen noch Kraft und Wille in ihm wären. Daß es von allen Göttern ausgerechnet der liebe Gott war, an den er sich wandte, klang aus diesem Mund wie eine Parodie. Aber das war es bestimmt nicht.
«Hilf mir«, sagte er und streckte mir die Hände entgegen.
Ich zog ihn aus dem Rollstuhl empor. Er schob mich von sich, tarierte mit den Fingern sein Gleichgewicht aus, hielt sich an der Umbrüstung beim Seecafé fest und versuchte, tief zu atmen — hier hatte er in längst vergangenen Sommern am frühen Morgen gesessen und, nachdem er eine halbe Stunde im See geschwommen war, ein Brioche gegessen und eine große Tasse Milchkaffee getrunken —; jetzt war in seinen Händen nur mehr wenig Blut, zu wenig, um den Schnee, der in einem schmalen Mäuerchen auf dem Geländer lag, zum Schmelzen zu bringen. Durch die meiste Zeit seines Lebens habe er keine Vorstellung von Gegenwart gehabt, hatte er mir einmal erklärt; er habe, im Gegenteil, jede Gelegenheit genützt, die Tagtäglichkeit als banal zu denunzieren, nämlich um die Gegenwart zu vertreiben, die im Vergleich mit der Zukunft stets schlecht abgeschnitten habe. Der zweite Atemzug gelang schon besser, der dritte noch besser, und schließlich atmete er zwar geräuschvoll, aber einigermaßen frei bei leicht geöffnetem Mund.
«Daß sich dein Vater das Leben genommen hat«, sagte er,»hätte ich verhindern sollen.«
«Du hättest es nicht verhindern können«, sagte ich.
Er schwieg lange, bewegte dabei seine Lippen, und es folgte ein Satz, mit dem er eine seiner Vorlesungen hätte beginnen können:»Auf der gediegenen Standfestigkeit der Logik behauptet sich der Glaube an die Vernunft, und die Vernunft hielt ich während meines Lebens für die wesentliche Grundlage der zivilisierten Menschheit …«Schon nach den ersten Worten stand ihm die Enttäuschung über sich selbst ins Gesicht geschrieben: daß es sein Verstand nicht zugelassen hatte zu sagen, was er hatte sagen wollen; und die Ungeduld angesichts seiner geringen Zeit. Ich hätte ihm antworten sollen: Du warst für mich der Inbegriff der Vernunft. Du warst für mich der Inbegriff des Glaubens an sie. Du warst für mich der Inbegriff von Vornehmheit. Du warst für mich der Inbegriff der Langmut, der Geduld, des Nie-die-Nerven-Verlierens, des Nie-den-Überblick-Verlierens, des Nie-in-Panik-Geratens. Du warst der Arzt unserer Familie. Du warst der Schutzengel meines Vaters. Du warst der, der das Leben meiner Mutter lenkte. Du warst der Mann, der so gut gerochen, dessen Stimme mir jede Angst genommen hat; der Mann, der mir das Schwimmen beigebracht hat; mit dem ich durch das Tal gezogen bin, einen Feldstecher vor der Brust, der mir die Vögel gezeigt und mir alles über sie erzählt hat — über die vornehm gekleidete Bachstelze, die nicht minder vornehme Rauchschwalbe, den schmucken Stieglitz, über die verschiedenen Drosseln mit ihrem gepunkteten Wams, über Gimpel, den Clown, über das winzige Wintergoldhähnchen, das mir ein bißchen trottelhaft neureich vorgekommen war, den Eichelhäher mit den Seitenstreifen im schönsten Blau, über den wenig scheinbaren Sumpfrohrsänger, der sich Ruhm erwirbt, indem er alle anderen imitiert, über die hypnotische Dohle, den klugen Raben, dem man die Zunge lösen kann, was immer das auch heißen mag … — Ohne dich wäre ich nicht, was ich bin. Er hätte gefragt: Und was bist du? Was für eine andere Antwort wäre mir geblieben, als ihm die gleiche Frage zu stellen? Und was hätte er geantwortet? Er weiß, daß ihm etwas widerfährt, aber er weiß nicht, was es sein wird; und er weiß noch weniger, ob es gut oder schlecht sein wird.
«Was tut dir in diesem Augenblick am meisten weh?«fragte er plötzlich und mit hoher Luft in der Brust.
Der Streifen Schilf, der unter uns aus dem Eis wuchs, die Reifenspuren des Rollstuhls am Wasser entlang, Spuren von gut einem Dutzend Besuchen hier — alles für uns, alles von uns, alles wir, nur wir.»Setz dich wieder«, sagte ich.»Es strengt dich zu sehr an.«
«Sei doch nicht so ein dummer Hund!«fuhr er mich plötzlich an. Die Verzagtheit blieb in seinen Augen stehen.»Diese Abgeklärtheit eines Mannes in den mittleren Jahren!«rief er aus.»Wie blöd ich das finde! Können wir uns gegenseitig nicht einmal sagen, was uns im Innersten weh tut?«
«Ausgerechnet du fragst das?«
«Was soll das heißen? Ich habe dir alles erzählt. Seit du hier bist, haben wir nur von mir gesprochen.«
«Erstens hast du dir das gewünscht, und zweitens ist es nicht wahr«, sagte ich.»Ich habe dir sehr viel von mir erzählt.«
«Was tut dir weh? Eine einfache Frage.«
«Ich bin in Wien mit einer Frau zusammen, es ist eine lockere Verbindung.«
«Was kann daran weh tun?«
«Sie liebt mich mehr, als ich sie liebe.«
«Das wird ihr weh tun.«
«Genau gesagt: Ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich sie liebe.«
«Um so mehr tut es ihr weh. Aber was geht sie mich an. Ich kenne sie nicht, und ich werde keine Gelegenheit mehr haben, sie kennenzulernen. Ich will wissen, was dir weh tut!«
«Sie schläft mit anderen Männern. Genau gesagt: mit zwei Männern. Ab und zu. Gleichzeitig. Genügt dir das?«
«Ein Mann schläft mit deiner Frau, das verdoppelt ihren Wert und damit auch deinen. «Er kicherte, seine Knie fingen an zu zittern.»Und mit zwei Männern — bitte! Du darfst deinen Wert mit vier multiplizieren! Woher weißt du es?«
«Sie hat es mir gesagt.«
«Warum?«
«Als wir uns erst wenige Tage kannten … ich habe sie gefragt, ob sie schon einmal mit zwei Männern gleichzeitig im Bett war.«