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«Dagmar und ich? Lieber Himmel, das ist zwanzig Jahre her!«

«Warum?«insistierte er.

«Das weiß ich nicht mehr.«

«Ihr habt einen Sohn miteinander. Du mußt doch wissen, warum ihr nicht zusammengeblieben seid!«

«Mehrere Gründe.«

«Nenne mir einen!«

«Willst du das wirklich wissen? Daß ich zum Beispiel zu meinem Entsetzen an mir entdeckte, wie ich ihre Art zu sprechen nachäffte, wenn sie nicht in der Nähe war, wenn ich Milch und Brot im Supermarkt besorgte oder in der UB saß, und daß sie mir erzählte, wie sie mich am hellichten Tag in halblauten Selbstgesprächen zu einem Popanz aufblase, um ihn anschließend nach Strich und Faden niederzuargumentieren. Genügt das?«

Auf dem Rückweg zur Villa hinauf erzählte er mir, daß er vor neunzehn Jahren, als Margarida gestorben war, nach Göttingen gefahren sei und daß ihn die Stadt, in der er als Kind und als Student so glücklich gewesen war, nun mit Trübsinn eingedeckt habe; daß er weiter nach Brüssel gefahren sei, um sich in der verzweifelten Hoffnung auf irgendeine Erlösung im Königlichen Institut für Naturwissenschaften den Ishango-Knochen anzusehen, in den vor achteinhalbtausend Jahren Menschen Primzahlen in Form von Kerben eingeritzt hatten, daß er durch den Anblick dieses uralten kleinen Knochens aber nicht erhoben, sondern in eine nachgerade irrwitzig komische Melancholie gestoßen worden sei, die seinem Gesicht im Hotelspiegel einen perfekten Ausdruck von Dummheit verliehen habe; daß er bereits am nächsten Tag weitergefahren sei, kreuz und quer durch Deutschland — nach Aachen, Wuppertal, Remscheid, hinunter nach Mannheim, hinüber nach Würzburg und eben auch nach Frankfurt — und daß er dort Dagmar und David besucht habe.

«Ich wußte in meiner Not nicht, an wen ich mich wenden sollte«, sagte er.

Als mich Frau Mungenast in Wien anrief und mir mitteilte, daß Professor Candoris gestorben sei, saß David neben mir. Er hat mich besucht, ja. Er hat mich besucht, weil ihn Carl darum gebeten hatte. Und er hatte ihn mit der Absicht darum gebeten, seine Mutter und mich wieder zusammenzubringen. Carl hatte über all die Jahre mit Dagmar und David Kontakt gehalten. Ich hatte nichts davon gewußt. Gleich nach Davids Geburt hatte er ein Konto auf dessen Namen eröffnet und jeden Monat 200 D-Mark einzahlen lassen. Zu Davids achtzehntem Geburtstag schickte er ihm das Sparbuch. Fünf-, sechsmal war er bei ihnen in Frankfurt gewesen. Wenn’s reicht. Und David wiederum hatte Carl besucht, mehrere Male, über die Weihnachtsferien zusammen mit Freunden zum Schifahren, in den Sommerferien in Wien, dort hatte er sogar einmal einen guten Monat lang in der Wohnung am Rudolfsplatz gewohnt.

«Ich kann mich nicht erinnern, wie ich ihn kennengelernt habe«, sagte David.

«Was ist deine erste Erinnerung?«fragte ich ihn.

«Ich sehe Carl in unserer Küche in Frankfurt sitzen. Ich muß einen komischen Satz gesagt haben, erzählt Mama, und Carl und sie haben gelacht. Er war auf jeden Fall der erste Mensch, mit dem ich telefoniert habe, das weiß ich bestimmt. Einmal pro Woche, meistens am Sonntagabend, hat er bei uns angerufen.«

Das kam mir alles bekannt vor, sehr bekannt. Am Ende habe Carl sogar jeden Tag in Frankfurt angerufen. Das wollte ich genau wissen.

«Wann am Ende?«

«Als du bei ihm in Lans warst. Nach deiner Operation.«

Zweites Kapitel

1

Carl Jacob Candoris wurde am 18. Mai 1906 in Meran geboren. Sein Vater, Kajetan von Candoris, stammte aus einem Südtiroler Geschlecht, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, dank der braven Beamtentätigkeit dreier vorangegangener Familienoberhäupter, in den Stand der Edlen nobilitiert worden war. Kajetan diente als Oberleutnant in der österreichisch-ungarischen Armee und war in Brixen stationiert. Nach der Geburt seines Sohnes erhielt er von seinen Vorgesetzten die Erlaubnis, drei Nächte in der Woche zu Hause bei seiner Frau zu verbringen. Das schrieb er — und betonte es durch Unterstreichung — in einem Brief an seinen Schwiegervater in Wien.

Dieser Brief stellt den einzigen Gegenstand dar, der Carl an seinen Vater erinnerte. Von Kajetan von Candoris existieren weder Bilder noch irgendwelche Dokumente, keine persönlichen Kleinigkeiten — Tabakspfeife, Rasiermesser oder Spazierstock —, nicht einmal eine Anekdote über ihn gibt es. Er fiel bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs in der Schlacht bei Lemberg in Galizien. Nur dieser Brief ist da; und es ist nichts an ihm, was einem ans Herz wachsen könnte. Ein vergilbter Bogen, zweifach gefaltet, am Kopf versehen mit dem Abdruck der Stampiglie des XX. Korpskommandos Brixen. Der Brief ist in sauberer Kurrentschrift geschrieben und beginnt mit:»Sehr verehrter Herr Bárány, lieber Schwiegerpapa!«Es folgen Beschreibungen der ehelichen Wohnung, der täglichen Routine beim Dienst, eines Wochenendausflugs in die Dolomiten gemeinsam mit seiner Frau, schließlich der erwähnte, in voller Länge unterstrichene Hinweis auf seine dienstliche Bevorzugung — alles in einem hölzernen Stil verfaßt, der weder rührend noch komisch wirkt, sondern tatsächlich wie aus einem der damals gebräuchlichen Briefschreibehilfen übernommen. Unter» Hochachtungsvoll «und der Paradeunterschrift» K. v. Candoris «folgte, etwas abgesetzt und ebenfalls in voller Länge unterstrichen, ein Postscriptum:»Dieser Brief ist auf Drängen meiner lieben Frau, Charlotte von Candoris, geschrieben worden, die hier in Brixen nach ihren eigenen Worten sehr glücklich ist.«

Der Zweck des Briefes war Beschwichtigung. Sein Vater nämlich, erzählte Carl, habe den Schwiegereltern gegenüber behauptet, er sei mehrere Male beim Ministerium vorstellig geworden, um nach der Heirat in Wien, der Heimatstadt seiner Gemahlin, bleiben zu dürfen; die Stationierung in Südtirol sei ausdrücklich gegen seinen Willen geschehen. Herr Bárány aber stellte Erkundigungen an und erfuhr, daß — im Gegenteil — dringend darum gebeten worden war, in Brixen den Dienst antreten zu dürfen.

«Das Postscriptum war ebenfalls gelogen«, bemerkte Carl.»Meine Mutter hatte Heimweh. Eltern und Verwandtschaft ihres Mannes verhielten sich präpotent und abweisend gegen sie. In Wahrheit hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch, als endlich wieder in Wien zu leben. Daß mein Vater sie in dem Brief an ihre Eltern nicht einfach nur Charlotte, sondern ›von Candoris‹ nannte, läßt sich nur aus einem für mich schwer nachvollziehbaren Dünkel erklären, der ihm vielleicht gar nicht bewußt war — was ein erbärmliches Licht auf seine Intelligenz werfen würde —; oder seine hohe Nase war ihm wichtiger als die Versöhnung mit einem ›Bürgerlichen‹ — wenn so, warum der Brief? — ; oder aber diese Blasiertheit war gezielt und absichtlich herablassend gemeint — in diesem Fall wäre der Brief allerdings eine Art Kriegserklärung gewesen, was ich mir auch wieder nicht vorstellen kann. Meine Großeltern jedenfalls empfanden dieses ›meine liebe Frau, Charlotte von Candoris‹ als Dummheit, Arroganz und Frechheit.«

Frau Mungenast hatte uns im Arbeitszimmer ein kleines Abendbrot hergerichtet und war anschließend in ihr Zimmer gegangen. Es hatte am späten Nachmittag zu schneien begonnen, mit Einbrechen der Dunkelheit hatte der Himmel aber wieder aufgeklart. Ich hätte gern durch die breite Fensterfront auf das Tal hinuntergeschaut, das vom Mondlicht beschienen war; aber Carl wünschte, daß ich die Vorhänge zuziehe.»Es lenkt uns ab«, sagte er.

Er fragte:»Brauchst du noch etwas?«

«Ich habe alles«, sagte ich.

Der Raum umfaßte die Breite des Hauses und bestand aus zwei Teilen, die durch einen Deckensturz und ein schmales Regal, das aus der Wand sprang, andeutungsweise getrennt waren. Die Wände des kleineren Teils waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern und CDs vollgestellt, mitten darin stand ein weitflächiger Schreibtisch aus hochglänzendem Teakholz. Carl kaufte jedes Buch, das ihn auch nur irgendwie ansprach, aber hatte es nie gemocht, allzu viele davon um sich zu haben. Solche, bei denen er sich sicher war, daß er sie nicht mehr in die Hand nehmen würde, sortierte er immer wieder aus, wobei ich nicht weiß, ob er sie irgendwo im Haus, im Keller vielleicht, lagerte oder nach Wien schickte oder irgendwelchen Bibliotheken schenkte oder ob er sie einfach wegwarf. Ebensoviel Platz wie die Bücher nahmen die CDs ein. Als die Compact Disc aufkam, kaufte er sich alle Aufnahmen, die ihm etwas bedeuteten, nach und räumte die Schallplatten aus den Regalen. Die Pressungen, die auf den neuen Tonträgern nicht mehr in den Handel kamen, ließ er sich später von einem Studenten, den er im Sommersemester offiziell als seinen Sekretär anstellte, von Schallplatte auf CD brennen. Im größeren Teil des Raumes, von dem aus eine Tür hinaus auf die Terrasse führte, standen nahe der Fensterfront ein Eßtisch für zehn Personen, weiters eine Gruppe, bestehend aus einem Chesterfield, einer Zweisitzer- und einer Dreisitzercouch aus rostbraunem Leder, und Carls alter, dunkelgrüner Lehnsessel. Die Fensterecke nahm der Stutzflügel ein, ein ahornbraunes Stück, schon mehrmals renoviert, das er von seinem Großvater geerbt hatte. Der Kamin war für meinen Geschmack etwas überdimensioniert, was aber nur auffiel, wenn er kalt war; es ließ sich darin ein rechtes Lagerfeuer aufschichten, die Flammen erleuchteten den Raum und holten die Wildnis herein, eine Idee davon wenigstens.