Ich löschte die Lichter, nur die Stehlampen neben seinem Lehnstuhl und der Couch, auf der ich mich eingerichtet hatte, ließ ich brennen. Carl saß dicht am Feuer, die Hände hatte er im Schoß gefaltet, die Daumen kratzten einander den Rücken. Neben ihm auf einem Beistelltischchen standen eine Kanne mit Tee und ein Teller mit belegten Broten, die Frau Mungenast in briefmarkengroße Quadrate geschnitten hatte, ein Apfel und ein Messerchen sowie eine einzelne Zigarette auf einem Teller und eine Schachtel Streichhölzer. Die Brote, die für mich gedacht waren, hatte sie lediglich halbiert. Eine Flasche Wein stand neben meinem Teller, ebenfalls eine Kanne Tee, eine kleine Tafel Schokolade, Orangen, Bananen, Äpfel.
Ich hatte vorgeschlagen, wenigstens bei unserer ersten Sitzung mein Diktiergerät mitlaufen zu lassen. Es ist ein digitales Gerät, auf dem mehr als vier Stunden Platz hätten; das müßte, sagte ich, für den ersten Abend doch genügen. Zufrieden war er damit nicht. Ich versprach ihm, die Aufnahme in den nächsten Tagen in die Hefte zu exzerpieren.»Ich muß mich erst in meine Rolle eingewöhnen, und wir wollen ja nicht, daß etwas verlorengeht.«
Auf dem Kaminsims lagen ein kleines Buch und eine Mappe. Er bat mich, ihm diese beiden Dinge zu geben. Die Mappe enthielt neben anderen zusammengefalteten und glatt gepreßten Papieren den Brief seines Vaters. Das Buch war eine Auswahl aus Giacomo Leopardis Zibaldone, ein schmales Bändchen, gut fünfzig Jahre alt, schätzte ich, von kleinem Format, gebunden in grauem Hartkarton.
«Es wird dir sicher merkwürdig vorkommen, daß ich mir so etwas wie ein Motto ausgesucht habe. Sieh es mir nach! Und noch etwas: Ich spüre, du kommst dir instrumentalisiert vor. Du brauchst mir nicht zu widersprechen, ich spüre es. Ich an deiner Stelle käme mir gewiß so vor. Sieh mir auch das nach! Du kannst auf deine Bücher verweisen, dein Vater konnte auf seine immense Musikalität verweisen. All die Menschen, die mir soviel bedeutet haben, haben etwas hinterlassen, denke ich. Ich habe nur mein Leben, und das Beste daran war die Begeisterung, die ich für die empfand, die über so viele Talente verfügten. Ich möchte dir etwas vorlesen.«— Er schlug das Buch auf, wo ein gefaltetes Blatt eingelegt war. — »Leopardi hat gedacht wie ich. Vielleicht war er im Charakter mir ähnlich. Ihm hat es an nichts gemangelt, zugleich aber an allem. Er hatte zu jeder Zeit seines Lebens die besten Aussichten und war dennoch ein Pessimist. Was hier steht, ist meine Erfahrung. Ich gestatte mir, ihn etwas zusammenzuziehen. Hör zu: ›Dies ist das Eigentümliche der wahrhaft großen Werke, daß sie auch dann, wenn sie die Nichtigkeit aller Dinge vor Augen führen, wenn sie die unüberwindliche Glücklosigkeit des Daseins erkennen und spüren lassen, wenn sie die gräßlichste Verzweiflung ausdrücken, dennoch einer hohen Seele, mag sie sich auch in einem Zustande äußerster Niedergeschlagenheit und Enttäuschung, Mutlosigkeit und Verneinung befinden, stets zum Troste gereichen, zu neuer Begeisterung wecken und wenigstens für den Augenblick das verlorene Leben wiederschenken.‹«
Eine Weile schwieg er, das Buch zwischen seinen blassen, knittrigen Fäusten. Endlich sagte er:»Ich habe nie an etwas anderes geglaubt als an das, was Menschen bewerkstelligen. Daran aber schon. Und nun sollst du dein Diktiergerät einschalten.«
2
Carls Stimme auf dem Band:»Ich kann nicht behaupten, daß mir dieses Stück viel bedeutet, aber es ist nun einmal das einzige Stück, das ich von meinem Vater habe. Valerie hat den Brief nach dem Ableben unserer Mutter bei deren Sachen gefunden und ihn mir gegeben, als ich 1945 nach Wien zurückkehrte.«(Valerie ist Carls Halbschwester, achtzehn Jahre jünger als er, Tochter aus zweiter Ehe seiner Mutter. Sie lebt heute in Dänemark.) —»Daß meine Mutter den Brief durch all die Jahre aufgehoben hat, hat mich gewundert. Sie hat von meinem Vater nie gesprochen. Jedenfalls nicht mit mir. Mit meinem Großvater oder meiner Großmutter bestimmt nicht. Mit Valerie ebenfalls nicht. Was sollte sie auch mit ihr über meinen Vater sprechen, wenn sie nicht einmal über deren Vater mit ihr sprach! Ein Gespenst war mein Vater, und ein Gespenst war auch Valeries Vater. Ich bezweifle, daß meine Mutter diesen Brief je zu Ende gelesen hat. Der Brief lag also irgendwo herum. Was tun damit? So hat sie ihn halt zu ihren Sachen gelegt, in ihren Sekretär — den sie sich als junge Frau von dem einzigen Geld, das ihr je aus eigener Arbeit zugeflossen war, gekauft hatte und der erstaunlicherweise über den Krieg gerettet worden war. Und dort war er liegengeblieben, durch die Jahre. Bis man ihn nach ihrem Tod fand. So erklärte ich mir das. Und später lag er bei meinen Sachen. Ebenfalls durch die Jahre. Irgendwann habe ich ihn Margarida gezeigt. Sie war gerührt. ›Deine Mutter hat ihr Leben lang an deinen Vater gedacht‹, sagte sie. Ich sagte: ›Nein, das hat sie gewiß nicht. Und bitte nimm das Stück Papier nicht in die Hand, als wär’s eine Seite aus dem Originalmanuskript vom Hamlet!‹ Margarida hat den Brief rahmen lassen und in meinem Arbeitszimmer an die Wand gehängt. Mit der Zeit begann die Schrift auszubleichen. Ich dachte: Sieh an, mein Vater löst sich in Licht auf! Und das nicht einmal metaphorisch gemeint. Gibt’s etwas Friedsameres? Aber Margarida hat das Stück unter dem Glas hervorgeholt und in meiner Dokumentenmappe versorgt. Aber nicht in ein eigenes Fach hat sie ihn gesteckt, sondern unter meine Geburtsurkunde. ›Ja, das ist wirklich ein würdiger Platz‹, lobte ich sie. Bis heute habe ich den Brief nie mehr hervorgeholt.
Meine Mutter war siebzehn, als sie meinen Vater heiratete. Während seiner Zeit an der Militärakademie in Wien hatten sie einander kennengelernt. Mein Großvater und meine Großmutter sahen die Beziehung von Anfang an nicht gern. Das Soldatendasein schickte sich ihrer Meinung nach für einen intelligenten erwachsenen Mann nicht. Meine Mutter war ihr einziges Kind, und sie hätten lieber einen Zivilisten als Schwiegersohn gesehen und den auch lieber erst einige Jahre später, am besten einen mit kaufmännischen Interessen, der irgendwann das Geschäft hätte übernehmen können, ohne daß man ihn vorher zurechtbiegen und hinterher ständig kontrollieren mußte. Daß ihr Schwiegersohn einen Adelstitel mitbrachte, bedeutete ihnen weniger als nichts. Mein Großvater war gegenüber den Monarchien immer kritisch eingestellt gewesen, und meine Großmutter sah es nicht anders. Eher noch radikaler. Zeitweise jedenfalls. Hing von ihrem Blutdruck ab. Als mein Vater starb, hielt sich die Trauer der beiden in Grenzen. Sie wußten nichts über ihn, und er hatte ihnen nie Gelegenheit gegeben, ihn näher kennenzulernen. Kein Interesse hier, kein Interesse dort. Ich nehme an, mein Vater war schlicht und einfach ein nichtssagender Mensch gewesen, einer, über den es eben nichts zu sagen gab. Und deshalb hat unsere Familie auch nichts über ihn gesagt.«