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Nur einmal war ich in einer von Carls Vorlesungen gewesen — das war zu einer Zeit, als Universitätsprofessoren noch eine säkulare Priesterschaft darstellten, jedenfalls in Österreich. Er war an der Tafel gestanden, gekleidet wie für einen englischen Herrenclubabend, in der rechten Hand die Kreide, die linke Hand flach vor sich, und hatte mit bald nur noch gehauchter Stimme die beklagenswerte Tatsache bejubelt, daß es vielleicht nie gelingen werde, eine Ordnung in die Abfolge der Primzahlen zu bringen; und während er sprach und die Zeichen auf die Tafel malte, hatte er immer wieder auf seine linke Hand geblickt, als seien dort die Glieder seiner Argumentationskette eingraviert. — Und so tat er es auch jetzt. Er drehte die Hand, mit der er seine Erzählung aufgehalten hatte, und las daraus vor, was er zum Thema Familie darin geschrieben fand.

«Wir schleppen unsere Familienmitglieder mit uns herum wie Voodoopuppen, weil wir ihre böse Magie nicht wecken wollen, und das allein ist der Grund, warum wir uns nicht trauen, uns ganz von ihnen zu trennen.«

Margarida hat mich einmal gewarnt, ich solle nicht unbedingt glauben, was Carl über seine Familie erzähle. Ihr Mann sei so sehr von dem Gedanken erfüllt, ein mündiger Mensch müsse bereit sein, für alles, was ihn betrifft, einzustehen, daß er nicht akzeptieren wolle, wenn einer sich hinstelle, als könne er nichts gegen seine Herkunft ausrichten. Wie die Eltern gewesen seien, sei Sache der Eltern. Wenn dich ein Unglück trifft, ist es dein Unglück, und es verdient, ertragen zu werden. Das sei Carls diamantene Meinung. Sagte Margarida. Ob er immer noch so dachte? In C.J.C. 6 finde ich eine Stelle — das war bereits am sechzehnten Tag meines Besuches —, wo ich zitiere, was er über den japanischen Mathematiker Makoto Kurabashi, den er entdeckt und mit dem er etliche Jahre korrespondiert hatte, sagte, nämlich: er sei sein Bruder gewesen; und ich schrieb weiter: daß er mich gleich korrigierte, als ob ich ihm widersprochen hätte, was ich nicht hatte:»Du verstehst mich falsch. Ich meine das nicht in dem abgeschmackten Sinn von ›wir werden alle welche‹ — nein, nein: In meiner Familie war er mein Bruder.«

Carls Stimme auf dem Band:»Ich erinnere mich gut an Meran. Ich war fünf, sechs, sieben. Meine Mutter war fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig, aber sie sah keinen Tag älter aus als siebzehn oder achtzehn. Das haben alle gesagt. Jeder Gast, der zur Tür hereinkam. Die meisten in Uniform. Wenn wir beide allein waren, spielte sie mit mir. Wir aßen unter dem Tisch Marmeladebrote, zusammen mit einer Holzpuppe und einem Blechhahn. Wir legten Decken über den Tisch und hatten darunter unsere Höhle. Wir spielten Krankenhaus. Ich war der Arzt, sie die Patientin. Sie sagte, sie leide an der gefährlichen Schlafkrankheit. Sie war den ganzen Tag müde. Ich sehe sie im Bett liegen, die Zudecke um den Kopf gewickelt. Sie erklärte mir die Schlafkrankheit: ›Der Patient liegt im Bett, der Arzt schaut jede Stunde vorbei, mißt den Puls, fühlt die Stirn und schenkt Lindenblütentee nach. In der übrigen Zeit darf der Arzt tun, was er will.‹ Es war ein schönes Spiel. Nachdem Österreich Serbien den Krieg erklärt hatte, wurde meinem Vater das Privileg, an drei Tagen in der Woche zu Hause zu übernachten, entzogen. Meine Mutter packte ihre Sachen und fuhr nach Wien. Was sollte sie allein in Meran!

Ich war zu dieser Zeit in Ferien bei meiner Großtante in Göttingen. Gleich nach Schulschluß hatte mich meine Großmutter in Meran abgeholt. Meine Mutter hatte mich ins Hotel Palace gebracht, in der Lounge war Übergabe. Die Wohnung meiner Eltern wollte meine Großmutter nicht betreten. Am 25. Juli, bei Bekanntgabe der Kriegserklärung, war ich in Göttingen bei meiner Großtante Franziska Herzog, genannt Franzi, und deren Tochter Kunigunde, genannt Kuni, den verrücktesten zwei Frauenzimmern, die mir je untergekommen sind — exzentrisch, laut, schrill, verzweifelt, egoman, unersättlich, aber auch großzügig und charmant und vor allem süchtig danach, mich zu drechseln und zu verwöhnen — eine überwältigende Feriengesellschaft für einen Achtjährigen. Und wir drei waren begeistert vom Krieg. Alles, was ich über den Krieg wußte, war, daß man ihn mit i-e schreibt. Was ja auch wieder merkwürdig ist, wo mein Vater doch Berufssoldat war. Ich weiß nicht, ob mein Vater auch so begeistert vom Krieg war wie ich und diese beiden sonderbaren, schrecklichen Frauen. Wobei die Begeisterung von Tante Franzi und Tante Kuni keine echte war, sondern eine zynische. Vaterländische Erregungen waren ihnen ebenso fremd wie die Uniformjacken und die Uniformhosen, die in dem Betrieb hergestellt wurden, von dem sie lebten und in den folgenden Jahren noch opulenter lebten. Sie freuten sich, daß die Welt verreckt. Jedenfalls Tante Franzi. Aber das habe ich nicht mitbekommen. Ein schöner Sommer. Alle Tage im Freien. Ein Umzug war in der Stadt. Wir haben uns an die Straße gestellt und zugeschaut. Vom Marktplatz zum Kriegerdenkmal sind die Leute gezogen, es war wie bei ihrem Karneval, weiter zum Offizierskasino und zum Haus des Oberbürgermeisters. Und jedesmal ein Hallo. Und jedesmal eine Rede oder zwei Reden oder drei und Bier, als wäre Krieg eine Sache des Brauereiwesens. Und die Studenten mit ihren Fahnen. Ein Viertel von ihnen hat es zwei Jahre später nicht mehr gegeben, schätze ich. Bis in den frühen Morgen konnte man sie trommeln und johlen hören.

Sicher habe ich es auch genossen, so ausschweifend verwöhnt zu werden. Ich durfte aufbleiben, solange ich wollte, durfte essen, wann immer mir danach war, niemand verbot mir, in die Stadt zu gehen. Wenn ich von einem Taschenmesser in einem Schaufenster erzählte, legte man mir Geld auf den Tisch, damit ich es mir gleich am nächsten Tag kaufen konnte, doppelt Geld womöglich, weil Tante Franzi mir das Messer schenken wollte und Tante Kuni genauso. Die Launen, das Getue, der Zynismus der beiden gingen mir aber bald auf die Nerven. Nach einer Woche bereits legte ich mir ernsthaft einen Plan zurecht, wie ich allein nach Meran zurückfahren könnte. Ich wollte Tante Franzis Haushaltsgeld stehlen, mir eine Fahrkarte kaufen und mich unterwegs in der Nähe von irgendwelchen Leuten halten, damit der Kondukteur meinen sollte, ich gehöre zu denen.

Eines Tages brachte Tante Kuni eine junge Frau ins Haus, die sie als ihre Nachhilfelehrerin vorstellte. Tante Kuni hatte nämlich mit ihren zweiunddreißig Jahren begonnen, Philosophie zu studieren, und war in einen Phänomenologenkurs geraten, wo sie kein Wort verstand. Fräulein Stein war etwa so alt wie meine Mutter und sah ihr, obwohl dunkelhaarig, sehr ähnlich, beide hatten dieses ausgeprägte Grübchen am Kinn und die ernsten Augen, und beide waren auf eine beinahe überirdische Weise nicht eitel. Ich verliebte mich in sie. Tante Franzi und Tante Kuni verliebten sich ebenfalls in sie. Aber ich war der Bevorzugte. An den Nachmittagen, nach den zwei Nachhilfestunden mit Tante Kuni, zeigte sie mir die Stadt, führte mich durch immer eine andere Gasse, und immer gab es eine Sensation zu sehen oder zu hören oder zu riechen. Sie schenkte mir ein feingebundenes Buch mit leeren Seiten. Ich sagte, da hinein wolle ich schreiben, was wir beide erleben. Ich besitze es noch. Am Wall hinter dem Akziseamt beim Weendertor zeigte sie mir ein Hornissennest, ich hatte so etwas noch nie gesehen. Oder sie führte mich durch Blumenbachs Schädelsammlung. Aber sie erklärte mir nichts, wir haben uns die Exponate angesehen und gestaunt. Sie wußte auch nicht viel mehr als ich. Eigentlich wollten wir ja auch gar nichts wissen, nur anschauen wollten wir, und als der Kustos mit freundlichem Lächeln auf uns zukam, sind wir davon, weil wir fürchteten, er werde uns gleich einen Vortrag halten. Oder wir wanderten bis nach Rasemühle hinaus, zum Sanatorium, dort schlichen wir uns in den Park und stellten uns ins Efeu unter ein bestimmtes Fenster und lauschten der nicht enden wollenden Standpauke eines Paranoikers.