Ende September holte mich meine Großmutter aus Göttingen ab. Wir fuhren aber nicht nach Südtirol, sondern nach Wien. Im Zug teilte sie mir mit, daß mein Vater nicht mehr lebe. Sie teilte es mir mit — das ist richtig gesagt so. In der Volksschule Börsegasse war ich bereits angemeldet, und einen Platz im Hegel-Gymnasium für das Jahr darauf hatte mein vorausplanender Großvater auch schon für mich reservieren lassen. Unsere Wohnung in Meran habe ich nie wiedergesehen. Meine Mutter und ich bezogen drei Zimmer im Mezzanin im Haus am Rudolfsplatz, gegessen haben wir gemeinsam mit meinen Großeltern. Und meine Mutter führte ihr Leben als Tochter weiter, wie sie es vor ihrer Heirat geführt hatte. Ich wuchs neben ihr auf, als wäre sie meine ältere Schwester. — So sah unsere Familie aus.«
Unter Carls letzten Sätzen höre ich mich unruhig werden. Ich konnte nicht mehr länger sitzen. Ich hatte aus der Klinik ein Spezialkissen in Form eines Schwimmreifens mitgebracht, das wurde allen Prostataoperierten mitgegeben; es lag oben in meinem Zimmer. Wenn ich, hatte ich mir gedacht, im Morgenmantel herunterkomme, diesen Reifen unter dem Arm, das sieht aus, als wär’ ich unterwegs zum Strand, fehlten nur noch Sonnenöl und Sonnenbrille.
Ich höre mich auf dem Gerät sagen:»Es stört dich doch nicht, wenn ich mich hinlege? Ich kann mich setzen, wie ich will, es tut einfach noch weh.«
Carclass="underline" »Wann mußt du zur ersten Kontrolle?«
Ich:»Nächste Woche Dienstag.«
Er:»Frau Mungenast wird dich fahren. Was untersuchen sie dort?«
Ich:»Blut nehmen sie mir ab. Der PSA darf nicht über Null Komma Null sein.«
Er:»Das wird er nicht sein.«
Ich:»Das hoffe ich. Wie war es bei dir?«
Er:»Das weiß ich nicht mehr. Das ist … ich weiß gar nicht, wie lang … das ist … ich denke, zwanzig Jahre ist das her. Ist es so gut für dich?«
Ich:»Ja, so ist es gut … wie Marcel Proust … so geht es gut.«
Unsere Stimmen hören sich kämpferisch an. Beide. Das überrascht mich. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich mich kämpferisch gefühlt hätte. Merkwürdig sind auch die überlangen Pausen zwischen ihm und mir.
Er:»Ich kann keinen Wein mehr trinken.«
Pause.
Ich:»Wegen der Medikamente?«
Pause.
Er:»Sicher auch deshalb nicht, das wäre sicher nicht gut. Aber das ist es nicht. Ich leide seit einem Jahr an einer Art Allergie. Das heißt, die Histamine geraten in Aufruhr.«
Pause.
Ich:»Ich habe ein Dutzend Klammern im Bauch. Aus Titan.«
Er:»Das hat jetzt erst angefangen, das ganze Leben lang war das nicht … Es ist wie Heuschnupfen.«
Es hört sich für mich an, als sprächen die beiden für einen Hörer, den sie irrezuführen versuchten. Ich habe Teile des Bandes einem Freund vorgespielt; er hatte den gleichen Eindruck wie ich; er meinte, der Dialog klinge, als würden die beiden, während sie sprechen, sich gegenseitig Kassiber zuschieben.
Ich:»Aber du trinkst doch nicht viel.«
Er:»Das macht sich schon bei einem Glas bemerkbar. Das Gesicht juckt, ich muß niesen, die Augen tränen, und ich bekomme schlecht Luft, und das sei das gefährliche in meinem Alter. Dafür rauche ich eine Zigarette. Das tue ich nur aus Trotz, glaube mir.«
Ich:»Du hast immer nur eine Zigarette geraucht.«
Er:»Rauch meine! Ich werde Frau Mungenast sagen, sie soll morgen eine ganze Schachtel auf den Tisch legen.«
Ich:»Ich rauche schon lange nicht mehr.«
Er:»Sie findet es gelungen, wenn auf einem Tellerchen eine Zigarette liegt.«
3
Weiter in Carls Erzählung — unwesentlich gekürzt und ohne nennenswerte Veränderungen vom Band abgeschrieben:
«Als ich dreizehn war und die Professoren im Gymnasium dazu übergingen, uns mit ›Sie‹ anzureden, zog meine Mutter aus dem Haus meines Großvaters aus. Kann sein, sie war erwachsen geworden. Ich hätte, glaube ich, die Wahl gehabt, mit ihr zu gehen. Ich wollte nicht. Ich stellte das klar, noch ehe sie mich fragte. Das fällt mir in letzter Zeit häufig ein. Und es tut mir leid. Ich erinnere mich, daß sie ein gelbes Kleid trug, als sie in unserem Wohnzimmer stand und den Packern Anweisungen gab und daß die Männer über sie tuschelten. Ich nehme an, sie wollte es nicht auf einen Kampf mit ihren Eltern ankommen lassen. Sie räumte das Feld.
Den Großvater kannte ich bis dahin nur wenig. Wenn ich in Wien gewesen war, hatte er keine Zeit gehabt. Ein großer, breiter Mann mit einem Spitzbart, grau wie Aluminium, und sehr roten Lippen, immer etwas aufgeregt, weil er immer an einer Idee arbeitete. Nun kümmerte er sich um mich, und kaum war ein Jahr vergangen, da erinnerte ich mich kaum noch, daß ich einmal einen Vater gehabt hatte. Er kümmerte sich in einer Weise um mich, die einer Enteignung gleichkam. Ich denke, meine Mutter hat es so empfunden. In längst vergangenen Sommern war er als Bub in der Nähe von Szeged auf dem Gut seines Großvaters gewesen. Von ihm erzählte er mir sehr oft. Er habe ihm beigebracht, was er von seinem Großvater beigebracht bekommen hatte, nämlich die Vögel zu beobachten. Nun brachte er es mir bei. — Sebastian, alles, was ich dir, als du ein Bub warst, über Vögel erzählt habe, stammt, ich würde sagen, im Wortlaut — laß mich rechnen — vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Warum auch nicht, die Vögel haben sich ja seither nicht geändert. — Mein Großvater und ich besuchten, wann immer es seine Zeit erlaubte, das Naturhistorische Museum — unseren märchenhaften Saal 29, die Vogelfauna von Mitteleuropa. Oder, was noch viel schöner war, wir fuhren mit dem Auto hinaus aus der Stadt und durch das Wiental und von der Straße ab über die Feldwege und durchstreiften das Gehölz am Fluß entlang. Der Chauffeur hatte im Wagen auf uns zu warten. Mein Großvater trug ein altes Fernrohr aus Messing bei sich, das man zusammenschieben konnte. Mir hatte er einen modernen Feldstecher gekauft. Oh, ich kannte mich aus, ich war ein Fachmann. Ich konnte alle Mitglieder der Gattung der Sylvia, unserer Grasmücke, hersagen — Sylvia atricapilla, Sylvia borin, Sylvia communis, Sylvia curruca, Sylvia nisoria. Mein Großvater hat mich regelmäßig abgeprüft. Wir saßen im Fond seines Ford, starrten geradeaus durch die Windschutzscheibe, er fragte, ich antwortete, und der Chauffeur lächelte. ›Und nun die Laubsänger!‹ ›Phylloscopus bonelli, Phylloscopus sibilatrix, Phylloscopus trochilus, Phylloscopus collybita, auch Zilpzalp genannt‹ — in diesen Namen war ich verliebt, ich sagte ihn manchmal vor dem Einschlafen wie ein Mantra hundertmal vor mich her. Und zum Abschluß des Examens sagte mein Großvater zum Chauffeur: ›Herr Koch, gleich sind wir da, drosseln Sie die Geschwindigkeit!‹ Und zu mir: ›A propos Drosseln.‹ Und ich, ohne zu zögern: ›Turdus pilaris, Turdus iliacus, Turdus philomelos, Turdus viscicorus, Turdus torquatus, Turdus merula, auch Amsel genannt.‹ Die Sensation aber war unser Eisvogelpärchen. Mein Großvater war so aufgeregt, daß er sein Fernrohr auf eine Astgabel aufstützen mußte, um es ruhig zu halten. Ich sah durch die Okulare meines Feldstechers das Vogelpärchen auf einem Ast dicht über dem Wasser sitzen, Rücken blau und türkis schimmernd, je nachdem, wie das Licht einfiel. Die Bäuchlein ein wunderhübsches Braunorange. Ein flaumiges weißes Fleckchen neben dem langen, spitzen Schnabel. Plötzlich ließen sie sich gleichzeitig fallen, streckten ihren Körper, legten die Flügel an, zwei federngeschmückte Pfeilspitzen, und verschwanden im Wasser. Mein Großvater hielt mich am Ellbogen fest, eigentlich hielt er sich daran fest. ›Alcedo atthis‹, flüsterte er bedeutungsvoll. Wir sahen die beiden auftauchen und auf ihren Ansitz zurückfliegen, in ihrem Schnabel zappelte ein kleiner Fisch, ein Stichling oder ein Moderlieschen. ›Jetzt paß genau auf!‹ flüsterte mein Großvater. Die beiden Eisvögel schlugen die Köpfe der Fische gegen einen Ast, bis die Fische tot waren. ›Und jetzt: Achtung!‹ In einem eleganten Wurf drehten die Vögel ihre Beute um und verschlangen sie Kopf voraus. Wir haben auch das Nest des Eisvogelpärchens gefunden, eine Höhle in der Uferböschung. Zweimal in der Woche nahm sich mein Großvater Zeit. Dann fuhren wir durch das Wiental hinaus, ein ordentliches Stück hinter Hütteldorf, und legten uns dem Nest gegenüber mit unseren Gläsern auf die Lauer. Dieses Abenteuer regte meinen Großvater so sehr an, daß er aus seiner Bibliothek die alten Bücher aushob, schöne Sachen mit handgemalten Bildtafeln, und auf den Fahrten aus der Stadt hinaus erzählte er mir, was er alles über den Eisvogel gelesen hatte. Ich muß sagen, das meiste berührte mich eigenartig. Jeder Satz über das Verhalten dieser Vögel war metaphorisch. Zum Beispiel, daß im Gegensatz zu den anderen Vogelarten, bei denen die stärksten Jungen sich die größten Brocken holen, die Jungen des Eisvogels in Reih und Glied warten, bis sie drankommen, und wenn eines seine Portion gekriegt hat, sich wieder hinten in der Schlange anstellt. Ich konnte nicht glauben, daß die Vögel das alles erlernt hatten, nur um uns Menschen zu ermahnen. Aber es hörte sich so an. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Natur schon vor urdenklicher Zeit diese Vögel dressiert hatte, nur damit sie uns eines Tages als Vorbild für Disziplin dienten, beim Anstellen vor Lebensmittelläden zum Beispiel. Wenn man will, ist die gesamte Natur eine einzige Metapher. Aber doch eben nur, wenn man will. Ich wollte nicht. Mein Großvater war vom Verhalten dieser Vögel gerührt, und als er mir erzählte, er habe gelesen, daß irgendwo in einem strengen Winter zwei Eisvögel gefunden worden seien, der eine den Kopf unter dem Gefieder des anderen festgefroren, wurden ihm die Augen feucht. Das war mir als Dreizehnjährigem peinlich und auch etwas unheimlich. Zuviel Aufwand. Mir wäre lieber gewesen, die Vögel hätten gar nichts mit uns zu tun. So ist es ja wohl auch … — Das war 1919. Revolution und Republik haben meinen Großvater und mich weniger aufgewühlt als der mächtige Regen im Sommer, der das Nest unserer Eisvögel wegschwemmte.