Mein Großvater überlebte seine Tochter um knapp zwei Jahre. Er ist übrigens gerade so alt geworden, wie ich heute bin. Er hat sich hinübergeschlafen. Wer auch immer mit ausreichender Befugnis und Macht auf diesem Gebiet ausgestattet sein mag — ich bitte ihn um ein ähnliches Dahinscheiden.«
«1944 ist meine Mutter gestorben. Acht Jahre zuvor habe ich sie zum letztenmal gesehen. Ich hatte sie in ihrer Wohnung besucht. Diesmal war ich aus Lissabon gekommen, und anstatt Schallplatten brachte ich ihr eine Fotografie mit, auf der Margarida und ich zu sehen waren. Unser Hochzeitsfoto in geprägtem Leder gerahmt. Portugiesisch prächtig. Aufgenommen vor der Kirche Santa Cruz in Coimbra. Sie würde meine Frau gern kennenlernen, sagte sie. Ich sagte, sie solle uns doch einmal in Lissabon besuchen, eine edle Stadt, wie für sie erbaut, sagte ich, ein Rahmen für meine Mutter. Sie sagte, das würde sie gern tun. Aber etwas Konkretes haben wir nicht vereinbart. Sie war immer noch eine sehr, sehr schöne Frau. Später war ich noch einmal in Wien gewesen, 1937 im Herbst, wenn ich mich nicht irre, aber da hatte sie eine Freundin in der Wachau besucht, und ich dachte, ich werde ja bald wiederkommen, oder sie wird zu Margarida und mir nach Lissabon kommen, sonst wäre ich doch hinausgefahren, ich hätte mir Großvaters Ford ausgeborgt und wäre hinausgefahren in die Wachau. Stell dir vor, ich wäre hinausgefahren — vielleicht hätte sich ja eine Gelegenheit ergeben, mit ihr allein einen langen Spaziergang zu machen — so wie du mit deiner Mutter einen langen Spaziergang gemacht hast nach dem Tod deines Vaters, Sebastian, das habe ich gern gehört, als du mir das erzählt hast. Ich habe mir manchmal ein Picknick vorgeträumt, meine Mutter und ich, nur wir beide, so allein, wie wir in Meran gewesen waren. Ein Picknick, als säßen wir beide in einem Gemälde von Renoir. Um mein bissiges Gewissen zu beruhigen, habe ich mir solche Szenen ausgedacht. Nur schöne Dinge, ein Picknickkorb mit holländischem Blaurandgeschirr und Besteck mit Ebenholzgriffen, ein Damasttischtuch, das wir über den Boden breiten, eine Flasche burgenländischen Weißen, einen Marillenschnaps, feine Kleider, feine Stoffe. Und alles falsch. Sie hätte gesagt: Was schleppst du dich mit diesen Dingen? Was ziehst du die guten Hosen an, wenn’s in den Wald gehen soll? Und Wein! Willst du saufen oder wandern? Ihr hätten ein Apfel und ein Ronken Schwarzbrot genügt. Aber dem Bild, das ich von ihr hatte, dem genügte eine solche frugale Ausstattung eben nicht. Warum hatten wir alle nur so ein süßes Bild von ihr?
Am Abend des 10. September 1944 ist sie gestorben. Es war der erste Großangriff der alliierten Luftstreitkräfte auf Wien. Sie war gerade sechsundfünfzig Jahre alt geworden. Sah aus wie sechsundvierzig. Konnte sich herrichten wie sechsunddreißig. Und hatte ein Stimmchen wie eine Sechsundzwanzigjährige. Sagte Valerie, und ich glaubte ihr. Meine Mutter hat es verstanden, ihr Leben lang nicht arbeiten zu müssen. — Bis auf einmal, als sie eine Woche lang im Bristol vor orientalischen Prinzen Kleider vorführte, die selbstverständlich — so die Familienlegende — allesamt für den Harem angeschafft worden seien. Für diese Tätigkeit bekam sie so viel Geld, daß sie sich dafür ihren Hoffmann-Sekretär leisten konnte. — Ihr Nichtstun war für meinen Großvater das Ärgernis Nummer eins. Aber das monatliche Salär hat er nie ausgesetzt. Das hätte meine Großmutter auch nicht zugelassen. Komplementär zu ihrem Frauenrechtlertum und ihren egalitären republikanischen Anschauungen verehrte meine Großmutter nämlich die Schönheit als etwas Heiliges, vor dem das praktische Leben gefälligst den Hut zu ziehen habe. Wer meine Mutter nur oberflächlich kannte, hatte wahrscheinlich einen falschen Eindruck von ihr. Daß sie überaus anspruchsvoll sei, zum Beispiel. Ihre Haltung, ihre Art zu gehen! Oder wenn sie den Kopf bewegte, um jemandem zuzuhören, der neben ihr stand! Das hatte Klasse! Eleganz! Und es verriet Esprit. Es war einfach schön. Und weil zunächst niemand glauben will, daß ein solcher Adel aus einer Bevorzugung, einer Erwähltheit, eben aus der Natur selbst erwachse, vermutet man Dressur dahinter. Meine Mutter war eine Träumerin, aber ihre Wünsche und Erwartungen waren durchaus bescheiden. Sie wollte von allem das Beste, das schon, davon aber nicht viel. Sie besaß nur wenige Kleider, nur wenige Paar Schuhe, einen Mantel für den Winter, einen für die Übergangszeit. Und alles sah aus wie für sie allein geschustert und geschneidert. Sie hatte einen schmalen Kopf, sehr feine Gesichtszüge und einen schlanken, hochgewachsenen Körper. Und wundervoll wohlgeformte, wenn auch etwas zu große Hände. Eine Stimme hatte sie voll Melancholie und Sanftmut. Und eine sehr weiße Haut, makellos. Und eine Fülle blonden Haares, das sie tragen konnte, wie sie wollte, weil es sich allen Wünschen und Moden anpaßte. Sie war naiv. Ich meine damit: Sie dachte nicht über sich selbst nach. Über ein noch so kleines Kompliment konnte sie sich einen Tag lang freuen. Einmal spazierten wir durch den Volksgarten, im Frühling, und viele Menschen waren unterwegs. Ein Mann kam auf uns zu und sagte zu ihr: ›Ich kenne Sie. Sie sind die schönste Frau von Wien.‹ Meine Mutter wurde rot im Gesicht und stammelte: ›Sie müssen das nicht sagen‹ und meinte damit, es sei nicht notwendig, so zu übertreiben. Aber der Mann hatte ja nur ausgesprochen, was jeder bei sich dachte. Meine Mutter nahm mich an der Hand und zog mich fort. Und alle blickten uns nach. Aber vorne beim Burgtheater hüpfte sie vor Freude und fragte mich immer wieder: ›Was hat er gesagt? Was hat er genau gesagt?‹, und ich mußte es wiederholen: ›Du bist die schönste Frau von Wien.‹ Manchmal kann die Wirklichkeit mehr schmeicheln als jede Illusion.
Vor Weihnachten half sie in unserem Geschäft in der Wollzeile aus. Alle wünschten, nur von ihr bedient zu werden. Jedenfalls alle Herren. ›Wenn die Frau Charlotte bedient‹, sagte der Geschäftsführer, ›unser Herr Papuschek‹, wie ihn mein Großvater nannte, einer von denen, die in sie verliebt waren, ›brauchen wir von allem das Doppelte.‹ Ja, das Doppelte! Das Doppelte von den selbstgeschöpften Kognakpralinen, den selbstgeschöpften Ingwerpralinen, von den Nürnberger Elisenlebkuchen, den Aachener Printen, dem ungarischen Nougat und Marzipan; die doppelte Menge vom Slibowitz, vom Barack, dem guten aus Kumanien, vom Himbeergeist und Williamsbirn, von dem schottischen Whisky und dem irischen Whiskey, von dem Port aus Porto, dem Sherry aus Jerez de la Frontera, von den Coburger Bratwürsten in Dosen, dem unübertroffenen Serranoschinken und der italienischen Fioccosalami, die raffinierterweise wie ein Schinken geformt war; von dem goldgrünen Olivenöl aus Kreta, dem Kaviar von der Krim, den eingelegten Senfgurken mit Weichselblatt — hergestellt von einer ›echten Hausfrau aus Franken‹, die sich nach dem Tod ihres Mannes damit ihr Geld verdiente, was auf einem kleinen Faltkarton stand, der mit einem Spagatschnürl am Glas befestigt war —; das Doppelte vom Sirup und der Marmelade aus der Steiermark und dem Bergkäse aus dem Bregenzerwald; das Doppelte von den gut zwanzig Teesorten aus Ceylon, Rußland, Indien und China, nach denen zwanzig Meter auf und zwanzig Meter ab die Gasse duftete; und nicht zuletzt das Doppelte von dem schreiend teuren Kaffee aus Jamaika, dem sogenannten ›Violetten‹, den unsere Kunden nicht ohne ein verschämtes Grinsen kauften, als würden sie wissend eine Sünde begehen, der aber, wie ich erst später erfuhr, gar nicht aus Jamaika stammte, sondern wie fast alle unsere Kaffeesorten aus Brasilien. Oder die Schokolade! Die haben wir selber gegossen. Es gab noch andere Kakao- und Schokoladeerzeuger in Wien — Josef Küfferle, die Gebrüder Kunz, Josef Manner oder die Brüder Heller —, die warben damit, daß sie Verfahren entwickelt hätten, dieses Luxusprodukt so billig zu erzeugen, daß es sich auch die armen Schichten leisten konnten. Mein Großvater, der alte Seelenfuchs, sagte, nein, wer will schon zu den armen Schichten gehören. Seine Werbung war hoffärtig, frei nach dem Motto: Wer es sich nicht leisten kann, der kriegt meine Schokolade nicht. In Wahrheit war seine Schokolade nur ein klein wenig teurer als die der Konkurrenz, aber mit diesem Kleinwenig — so referierte er am Mittagstisch — kaufe sich der Kunde in die höhere Schicht ein, er dürfe sich schmeicheln, er trinke und esse nicht, was die Proleten trinken und essen, sondern das gleiche, was man in der feinen Gesellschaft genießt. Die Angestellten im Geschäft waren angewiesen, die Kundschaft in ›Fachgespräche‹ zu verwickeln. Dabei sollten sie, möglichst selbstverständlich und nebenbei, Sortennamen wie ›Criollo‹ oder ›Trinitario‹ einflechten und auch Ausdrücke aus der Verarbeitung, wie ›Conchieren‹, damit der Kunde den Eindruck gewinne, hier habe er es mit Fachleuten zu tun, und zwar mit Fachleuten, die ihn für einen Kenner hielten, dem man nie und nimmer eine schlechte Schokolade, also eine billige, verkaufen würde. Ich habe auch gelegentlich im Geschäft mitgeholfen, als Bub. Und wie gern! Noch heute träume ich manchmal davon! Ich bin direkt von der Schule ins Geschäft gelaufen, war ja nur ein Katzensprung von der Hegelgasse in die Wollzeile. ›Womit kann ich dienen?‹ Grüne Schürze, grünes Käppi, weiße Handschuhe. Habe mich selig eingefügt und in choreographischer Harmonie mit den Angestellten meine kleine Arbeit verrichtet. Vor Weihnachten, vor Ostern oder während der Ballsaison sind die Leute bis auf die Straße hinaus angestanden. Bestellungen gab es bis von Graz herauf. Das glaubst du vielleicht nicht, aber wenn damals einer aus der Provinz nach Wien kam, und angenommen, er hätte nicht mehr als fünf Geschäfte hier gekannt, so wären Báránys Feinkost- und Kolonialwaren gewiß dabeigewesen — natürlich E. Braun & Co. am Graben, höchstwahrscheinlich das Pelzgeschäft Liska am Hohen Markt, sicher das Tuchhaus Wilhelm Jungmann hinter der Oper, ohne Zweifel Augarten Porzellan am Stock-im-Eisen-Platz, auf jeden Fall aber der Bárány in der Wollzeile.