Meine zukünftige Großmutter, Friederike Alverdes, lebte allein mit ihrem Bruder Hanns in einem großen Bürgerhaus in der Nähe des Kontors meines Großvaters. Ihre Eltern waren gestorben, Mutter und Vater im selben Jahr. Woran und wie, weiß ich nicht. Das war ein Thema, über das nicht geredet wurde. Ihr Vater war Senator der Hansestadt Hamburg gewesen und Leiter der Deputation für Handel und Schiffahrt, ein sehr wohlhabender, angeblich sehr vornehmer, in seltenen Fällen sehr jähzorniger Mann. Von meiner Urgroßmutter weiß ich nichts. Es hatte Gerüchte gegeben. Die beiden seien verschwunden, seien auf und davon oder ein Unfall. Nein, behaupteten andere, sie ist an einer Infektion gestorben und er aus Gram. Diese Version halte ich für wahrscheinlich. Noch wahrscheinlicher scheint mir, daß er an der gleichen Infektion gestorben ist. Tante Franzi hat geheiratet, sie war gerade zwanzig, und meine Großmutter war vierzehn. Tante Franzi wohnte nun bei ihrem Mann, sie kam nur einmal am Tag vorbei und sah nach dem Rechten. Ansonsten waren meine Großmutter und Hanns allein. Und als Tante Kuni zur Welt kam, zog Tante Franzi nach Göttingen. Meine Großmutter hat nie auch nur ein Wort über diese Zeit verloren. Ich kenne die Geschichte von Tante Kuni. Als ich in Göttingen studierte, hat sie mir einmal Einführungsunterricht in unsere Familie gegeben. Ich mußte ihr schwören, daß ich es weder ihrer Mutter noch meiner Großmutter verrate.
Eines Tages jedenfalls sei das Fräulein Friederike mit ihrem Bruder Hanns, der gerade vierzehn war, im Kontor aufgetaucht, habe sich ohne Anmeldung in das Büro des Prinzipals begeben und diesen mit Charme und Nachdruck gebeten, den Jungen als Stift bei sich aufzunehmen, damit eines Tages ein Handelsmann aus ihm werde. So lernten sich mein Großvater und meine Großmutter kennen. Ein Jahr später heirateten sie. Sie wohnten zusammen mit Hanns in ihrem Elternhaus. Mein Großvater kaufte eine Hälfte des Hauses und legte das Geld auf ein Konto, das seinem Schwager bei Datum seiner Volljährigkeit zur Verfügung stehen würde.
Hanns war ihnen wie ein Sohn. Er liebte seine Schwester und verehrte seinen Schwager. Tatsächlich sah mein Großvater in ihm einen künftigen Partner. Hanns war der geborene Kaufmann. Egal, mit wem er sprach, jedem vermittelte er den Eindruck, hier werde eine gemeinsame Sache vertreten. Jeder schätzte ihn älter, als er war. Er verfügte über ein erstaunliches Talent für fremde Sprachen und Dialekte. Wenn der Schweizer Vertreter zu Besuch war, konnte er nach einem Tag dessen Sprachmelodie parodieren. Das typische ungarische Wienerisch meines Großvaters sprach er so, daß keiner glauben wollte, er sei noch nie in Österreich gewesen. Mit Achtzehn beherrschte er Englisch und Holländisch, konnte sich in Französisch unterhalten und nahm Privatunterricht für Spanisch. Dabei wirkte er nie angestrengt, alles ging ihm leicht von der Hand, im Gegenteiclass="underline" er hatte etwas Müßiggängerisches an sich, etwas Träges, Müdes, Phlegmatisches, beinahe Somnambules.
Als meine Mutter zur Welt kam, war Hanns gerade sechzehn. Er ignorierte das Kind. Tat weiterhin so, als wäre er der einzige. Es muß ein Engelssturz für ihn gewesen sein. Bis zu seinem neunzehnten Jahr hielt er in der Familie aus, dann floh er auf und davon. Das hieß, er zog aus, arbeitete aber weiter im Kontor. Am Tag seiner Volljährigkeit räumte er das Geld von seinem Konto ab und verschwand.
Mein Großvater kehrte nach Wien zurück, zusammen mit seiner Familie, man beschloß, in Wien zu bleiben und ein Haus zu bauen — am Rudolfsplatz. An den Ausmaßen dieses Gebäudes kann man erkennen, daß mein Großvater überzeugt davon war, daß sein Geschäft über Generationen bestehen und weiter expandieren würde. Im Erdgeschoß sollte ein Lager sein, das Mezzanin war für Büroräume vorgesehen, darüber die bel étage, das waren rund um den Innenhof zwölf Räume in expensiver Ausstattung, wo die Herrschaft wohnte, darüber ein Stockwerk, das leer war, sozusagen zur Reserve, gedacht als späteres Domizil der Kinder und Kindeskinder, und im letzten Stock schließlich waren die Zimmer für das Personal. Mein Großvater kaufte zusätzlich ein Haus in der Wollzeile, dort eröffnete er sein Geschäft — ein Geschäft, vornehm und prächtig, wie es in der Stadt bis dahin keines gab.
Von Hanns hörten meine Großeltern nichts. Lange nichts. Erst im Jahr 1909 hörten sie von ihm. Das heißt, sie lasen in der Zeitung über ihn. Tatsächlich waren in jenem Herbst die Zeitungen voll von ihm. Mein Großvater hatte drei deutsche Zeitungen abonniert, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, die Frankfurter Zeitung und die Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, die spätere Vossische Zeitung. Außerdem las er jeden Tag im Kaffeehaus die großen Blätter der Monarchie. Und in allen, in allen wurde über den ›Fall Hanns Alverdes‹ berichtet.«
Carl ließ eine lange Pause, eine sehr lange Pause, bis er mit der Geschichte von Hanns Alverdes begann. Ich hörte sein Ausatmen — Geräusche der in sich selbst versunkenen Natur.
«Aber du schläfst doch nicht?«fragte er.
«Carl, nein!«rief ich aus.
3
Nach Carls Beerdigung, als wir uns am Bahnhof in Innsbruck voneinander verabschiedet hatten und David und Dagmar nach Frankfurt, meine Mutter nach Fouquières les Béthune zurückkehrten und ich nach Wien, nahm ich mir vor, unverzüglich mit der Arbeit an» seinem Buch «zu beginnen. Der Gedanke, alles, was verloren war — und es war ja alles verloren —, schreibend neu zu gewinnen; noch einmal, auch wenn es nur im Imaginären sein würde, zu erleben, was ich als schön in Erinnerung hatte — nicht unbedingt, weil es schön gewesen war, sondern weil es gewesen war —, dieser Gedanke versetzte mich in eine Hochstimmung, der ich mich nur allzugern überließ — sie fühlte sich so jugendlich an! — , die aber, wie ich aus frustrierenden Erfahrungen wußte, dem Schreiben nicht zuträglich war; im Gegenteiclass="underline" Es ist nicht gut, sondern schlecht, sich in der Stimmung an den Schreibtisch zu setzen, die schreibend erst erzeugt werden soll. Als ich fünfzehn war und meine erste Geschichte geschrieben hatte, genauer: nicht die erste Geschichte, die ersten paar Sätze meiner ersten Geschichte, war ich von einer Fremdheit erfüllt gewesen, die war während des Schreibens in mir aufgestiegen, die ließ mich Dinge denken, die ich vorher nie gedacht hatte, die gab mir auf, wie ich ein Wort hinter das andere reihen sollte — nach einer Stunde hatte ich abgebrochen, ich war zu aufgewühlt gewesen, auch zu erschöpft. Bei jeder Geschichte, die ich später schrieb, am Beginn zu jedem neuen Buch, war die Sehnsucht nach dieser Fremdheit gewesen. Nun ging es mir wieder so. Ich fuhr mit dem Bus zum Albernen Hafen hinaus und spazierte vier Stunden an der Donau entlang und fühlte mich jung, fühlte mich wie jemand, dem — nachdem er zwanzig Bücher geschrieben hatte — klargeworden war, worin seine Berufung bestand, nämlich im Schreiben von Büchern. Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch … nahm den Laptop und setzte mich auf die Terrasse … nahm den Laptop und setzte mich in die Küche … in die Bibliothek … wieder auf die Terrasse … Ich fand keinen Einstieg. Wenn ich das Wort» ich «tippte, wie unverfänglich der Satzzusammenhang auch war, sah ich eine Lüge vor mir; wenn ich den Namen» Carl Jacob Candoris «schrieb, war es wie Verrat und Tücke; als hätte ich ihm den Namen genommen und einem anderen untergeschoben. Mir dämmerte, daß ich zum erstenmal die Wahrheit schreiben wollte; nicht Fiktion, sondern Wahrheit —»Aderlaß des Herzens«—, und dafür gab es keine Worte — richtig war vielmehr: Ich hatte keine.