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Ich erinnerte mich, als ich an Musicians geschrieben hatte, hatten sich bisweilen auftretende Schreibhemmungen dadurch überwinden lassen, daß ich recherchierte. Aber Achtung! Die Recherche ist ein Hund, das hatte ich bei dieser Gelegenheit gelernt. Für den Schriftsteller kann sie zu einem bissigen Hund werden. Der gibt sich zuerst spiellustig, tut, als ließe er sich abrichten, sorgt für Erfolgserlebnisse bei seinem Herrn, und zuletzt zerfetzt er seine Geschichte. Der Hausverstand sagt einem, man kann nicht genug wissen von dem Gegenstand, von dem man erzählen will. Falsch. Man kann zuviel wissen. Der zweite Irrtum besteht darin, daß man sich einredet, man habe gearbeitet, wenn man doch bloß nur Vorarbeit geleistet hat. Arbeit drückt sich in Seiten aus oder in Zeilen. Und in sonst gar nichts. Wieviel Zeilen hast du heute geschrieben? Wenn null, hilft es auch nicht, wenn du fünf Stunden in der Bibliothek oder am Internet gesessen hast. Gelernt habe ich: Es ist nicht gut, im voraus zu recherchieren. Such’ erst nach der Antwort, wenn sich die Frage stellt!

Nachdem ich mich eine Woche lang vergeblich an einer ersten Seite abgemüht hatte, beschloß ich, das oben formulierte Prinzip zu durchbrechen. Ich recherchierte den Hintergrund ausgerechnet zu jener Geschichte, die ich erst am Ende des Buches erzählen würde: die Geschichte von Hanns Alverdes.

Robert Lenobel gab mir den Tip, in Herwig Leopolds Deutsche Kriminalprozesse nachzuschlagen, einem Bestseller aus den frühen neunzehnsechziger Jahren, in dem der Autor — Volkskundler, Psychiater, Psychoanalytiker — spektakuläre Fälle der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aufführt und analysiert. (Die beiden Kriege und den Nationalsozialismus läßt er aus; begründet es damit, daß in diesen Jahren das Kriminale zur gesellschaftlichen Norm erhoben worden sei, wo es doch eigentlich einen Bruch derselben darstelle.) Ich borgte mir das Buch in der Nationalbibliothek aus, es ist ein faktenreicher Wälzer voll mit hilfreichen Querverweisen; tatsächlich sind darin Carls Großonkel fünfundvierzig (!) Seiten gewidmet. Leopold bezeichnet dessen Fall als den merkwürdigsten, der ihm begegnet sei. Und zwar deshalb, weil sich für die Taten des Hanns Alverdes nicht das kleinste Motiv rekonstruieren lasse.»Es scheint«, schreibt er,»als hätte diese Morde nicht er, sondern als hätten sie sich selbst begangen. «Als Motto über dem Kapitel zitiert er Seneca: Ut homo hominem non iratus, non timens, tantum spectaturus occidat —»Weil der Mensch den Menschen ohne Zorn und ohne Furcht, nur zur Augenweide tötet.«

Die zeitgenössischen Kommentatoren des Prozesses überschlugen sich in ihren Spekulationen, das Motiv der Morde betreffend, wie ich in den diversen Zeitungen aus den Jahren 1909 und 1910 nachlesen konnte. In jeder großen deutschen und österreichischen Zeitung wurde über den Prozeß ausführlich berichtet, ebenso in der London Times und in Le Figaro (Evelyn hat mir den Artikel aus dem Stegreif übersetzt), in Kolumnen wurde spekuliert, die Meinungen von nicht am Prozeß beteiligten Fachleuten wurden abgedruckt, über Diskussionen in psychologischen Vereinigungen und okkulten Zirkeln wurde berichtet. Sogar im Deutschen Reichstag wurde darüber gesprochen; dort fand sich wenigstens einer, der meinte, genau benennen zu können, was hinter den Morden steckte, und zwar ein geheimer kaiserlicher Befehl an einen selbstlosen Helden. Kaiser Wilhelm II. persönlich, so führte der konservative Abgeordnete von Oldenburg-Januschau aus, habe in einem dem Normalbürger freilich unverständlichen Schachzug den tapferen Hanns Alverdes in die Schlacht geschickt; woraufhin ihm ein sozialdemokratischer Abgeordneter aus dem Plenum zurief:»In was für eine Schlacht denn?«; was der Redner parierte mit: nur die dumme Linke hätte noch nicht begriffen, daß längst schon ein Krieg tobe, ein Weltkrieg sogar (29.1.1910!).»Der deutsche Kaiser ist nicht nur jeden Moment imstande, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann, und schließen Sie den Reichstag, sondern er verfügt, wie wir nun sehen, auch über eine anonyme Staffel von Spezialisten, die er jederzeit und an jedem Ort der Welt zum Einsatz bringen kann.«

Besonders danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Dr. Michael Haritz von der Justizverwaltung des Geheimen Staasarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin, der mir ein nachsichtiger Berater und ein kundiger Führer durch die Akten des Prozesses war.

Carls Erzählung als Grundlage, ergab sich aus meinen Recherchen folgendes Bild:

Im Frühjahr 1895 tauchte der dreiundzwanzigjährige Hanns Alverdes in Südwestafrika auf. Er reise für mehrere deutsche Firmen, vertrete aber auch Kollektionen portugiesischer, englischer, französischer, belgischer, holländischer, spanischer, ja sogar amerikanischer Waren. Er sei, sagte er, ein scout, worunter der Vorläufer des Handelsvertreters zu verstehen sei, welcher — eben wörtlich — dem eigentlichen Händler vorauslaufe. Solche Aufgabenteilung habe sich im Kongo, wo er bisher tätig gewesen sei, als nützlich und zukunftsträchtig erwiesen. Die Zeiten nämlich, in denen das alte Europa mit ein paar Kisten Glasperlen und ein paar Rollen Messingdraht hier einmarschiert sei und mit diesem unverschämten Plunder schwarze Arbeitskräfte für den Abtransport von Elfenbein angelockt habe, diese fröhlichen Zeiten seien vorbei; viele Eingeborene hätten sich inzwischen selbst zu prächtigen Händlern gemausert; die Zukunftschance gerade der deutschen Kolonien liege darin, Stützpunkte des Zwischenhandels zu sein. Was bisher ein Nachteil gegenüber Belgien, Frankreich und vor allem England gewesen sei, nämlich daß Deutschland erst verhältnismäßig spät sein Kolonialgeschäft aufgebaut und deshalb die beste Zeit der Ausbeutung verpaßt habe, verwandle sich nun in einen Vorteil; denn erstens sei der Ruf des Deutschen Reiches bei den Eingeborenen unbeschadet, zweitens seien Schürfen, Einfangen und Pflücken allemal teurer und risikoreicher als mit Geschürftem, Eingefangenem und Gepflücktem zu handeln. Außerdem und» unter uns gesagt«: Auch dem gierigsten Südwestler sei doch inzwischen klargeworden, daß aus diesem Land nichts zu holen sei, keine wertvollen Metalle, keine wertvollen Gewürze, kein Elfenbein. Dieses Land biete Lebensraum, das ja. Ein deutscher Farmer aber ist kein Eroberer. Der Bauer braucht Frieden, und Frieden beruht auf Handel, und Handel beruht auf Gleichheit. Die richtige Frage also laute: Wer braucht was? Und um genau das festzustellen, ziehe der Scout friedlich und freundlich von Farm zu Farm, von Negerkral zu Negerkral, von den Belgiern zu den Holländern, von den Franzosen zu den Engländern, vom Bergwerk zur Missionsstation und insbesondere von deutschem Bauernhof zu deutschem Bauernhof …

In dieser Weise belehrte Alverdes den» Direktor der Deutschen Kolonialgesellschaft «in Angra Pequena. Der nahm diese Belehrung eifersuchtsfrei und gelassen entgegen, erwies sich der junge Mann doch als ein ausgezeichneter Kenner der Geographie des Landes; außerdem behauptete dieser, wenigstens drei Eingeborenensprachen — Otjiherero, Oshivambo und Nama — gut genug zu verstehen und zu sprechen, um mit den Häuptlingen zu verhandeln. Der Direktor (seinen Namen konnte ich nicht in Erfahrung bringen) befand sich bereits seit sechs Jahren in diesem Land und war in einem Ausmaß demoralisiert, das an Irrsinn grenzte. Ihm war alles recht. Den» Direktor «hatte er für sich erfunden, hier hätte er sich auch» Zar «oder» Papst «oder gleich» Gott «nennen können. Er trug ein Uniformhemd, von denen er zwei besaß, beide waren fadenscheinig wie ein alter Regenschirmbezug. Es irritierte ihn nicht, daß dieser beredte, in lässigem frischem Khaki gekleidete Mann mit den flinken, unsteten Augen und den zielfesten Gesten noch so jung war. Er fragte ihn auch nicht, auf welche Weise er zu seinen Erkenntnissen gekommen und wie lange er überhaupt schon in Afrika sei. Es war ihm alles recht, weil ihm alles egal war. Sie saßen auf der Veranda der jämmerlichen Baracke, die das» Büro des Direktors «darstellte, tranken saure Limonade, knabberten Bremer Kekse, die auf Schiffen über ein Viertel der Weltkugel hierhertransportiert worden waren, um Heimweh zu wecken und Heimweh zu stillen, saßen auf den breiten Sesseln aus Peddigrohr, die der Direktor am Beginn seiner Tätigkeit mit viel Begeisterung für Repräsentation (vor wem eigentlich?) und noch viel mehr Mühe erworben hatte. Sie blickten hinaus auf die Bucht.»Das Meer ist überall gleich, der Seemann trägt sein Haus mit sich und ist deshalb nie einsam. Aber die, die das Schiff verlassen, denken an das Meer wie an eine Prüfung, und was an Land vor ihnen liegt, ist gelb und bloßer Boden, auf dem ums Verrecken nichts wachsen will. Hier ist alles möglich. Deine Grenzen sind dir so nah an den Leib gerückt, daß sie zu einer Art Haut geworden sind und du dir einbilden kannst, du seiest grenzenlos.«