Leutwein und die beiden anderen brachten die Verwundeten in die Missionsstation von Otjimbingwe, Alverdes aber zog mit Maherero und seinen Kriegern nach Okahandja, wo der Häuptling zu dieser Zeit residierte. Er wolle auskundschaften, was die Herero zum Handel beitragen könnten.
Die Herero hatten schon seit zwanzig Jahren Kontakte zu den Weißen, vor allem zu den Missionaren. Sie hielten diese Männer wohl für kuriose Figuren, und weil sie an allem Magischen und Rituellen Interesse hatten und fremde Riten nicht weniger ängstlich respektierten als die eigenen, hatten sich viele von ihnen, ohne daß die Missionare große Überzeugungsarbeit leisten mußten, taufen lassen. Das Alte Testament wurde nach Namen für die neuen Christen abgegrast. So kam es, daß Maherero mit Vornamen Samuel hieß. Er war ein Stück älter als Alverdes. Die beiden freundeten sich miteinander an.
Für den Gast wurde eine eigene Hütte gebaut, es war ihm verboten, auch nur einen Handstreich zu tun; bis an sein Lebensende dürfe er im Dorf bleiben, wolle er allerdings kürzer als einen Monat verweilen, müsse er bedenken, daß er den Häuptling beleidige. Alverdes sah seine Sache gedeihen. Er hatte Zeit. Er ließ sich verwöhnen, alles schmeckte ihm, und als er, umringt von Frauen, Männern und Kindern, sich über das Loch im Boden beugte, um den ersten Schluck Bananenbier zu nehmen — eine Ehre! — , war nicht einmal ein Gedanke an Ekel in ihm, und das, obwohl der Gärschaum, der aus der Öffnung quoll, schwarz vor Schmeißfliegen war und er selbst ja zugesehen hatte, wie in den Tagen davor zahnlose Weiber das Fruchtfleisch gekaut und viertelstundenlang im Mund zermanscht hatten, bevor sie es in das Loch im Boden spuckten. Er absolvierte Ausritte in die Gegend. Manchmal begleitete ihn Samuel dabei, sie unterhielten sich, und Alverdes erzählte von seiner Heimat, was sich in den wenigen Worten, die er beherrschte, fassen ließ, und die beiden vereinbarten, bei der nächsten Gelegenheit gemeinsam nach Deutschland reisen — das ja nun auch Samuel Mahereros Heimat war. Meistens aber war Alverdes allein unterwegs. Angst hatte er nicht. Sein Gewehr hatte er bei sich.
Einmal rastete er zu Mittag bei einem Brunnen. Er breitete seine Decke über die harten, ausgedörrten Zweige eines wilden Rosenbusches. Das war ihm ein Schirm gegen die Sonne. Sein Pferd sattelte er ab und ließ es frei grasen. Er war nicht weit vom Dorf entfernt. Er hatte keinen Plan für den Tag. Die Luft, konnte man meinen, habe die gleiche Temperatur wie das Blut im Körper. Er hatte Dörrfleisch bei sich, Fladenbrot, einen kleinen Glasballon mit Kognak, um daran zu lecken, und Wasser war leicht aus der Tiefe des Brunnens zu schöpfen. Er sah einen Mann durch das schüttere Gras kommen, ein alter Neger, der nichts weiter an sich trug als den üblichen Lederlatz. Er zog einen Wasserschlauch hinter sich her. Der Schlauch war aus dem Fell einer Ziege gefertigt und hatte die Form einer Ziege, nur ohne Kopf und mit Stummeln von Beinen. Der Mann kannte Alverdes wohl, er blieb stehen, entblößte lachend seine Zähne und hob die freie Hand. Alverdes grüßte zurück. Er sah zu, wie der Mann den Schlauch an einem Seil in den Brunnen warf. Immer wieder blickte er zu Alverdes herüber, lachte, hob die Hand. Und Alverdes lachte auch und hob ebenfalls die Hand. Und weil das Gewehr neben ihm lag, zielte er und erschoß den Alten. Das Pferd war bei dem trockenen Knall zusammengezuckt, aber es scheute nicht, und gleich zupfte es mit seinen Zähnen weiter versteckte Kräuter aus dem Boden. Alverdes blieb noch ein oder zwei Stunden unter seinem Sonnensegel liegen, schließlich brach er auf. Den toten Mann hatte er sich nicht näher angesehen. Nach zwei Tagen kehrte er ins Dorf der Herero zurück. Samuel erzählte ihm, daß ein alter Mann von einem Nama erschossen worden sei. Der Friede habe nicht lange gehalten. Ob der Nama gefaßt sei, fragte Alverdes.
«Nein.«
Den Wasserschlauch des Alten sah er noch eine Zeitlang vor dessen verwaister Hütte liegen.
Den zweiten Mord beging er ein halbes Jahr später. Da war er längst wieder in der Station in Otjimbingwe. Der alte Herero bei dem Brunnen war ihm schon fast aus dem Sinn gekommen. Manchmal fiel er ihm ein, aber er empfand nichts dabei, erinnerte sich wie an die erste Berührung mit einem läßlichen Laster. Er nahm sich vor, es noch ein zweites Mal zu tun, und dann Schluß. Man reinigt Gleiches mit Gleichem. Aber der Gedanke verflüchtigte sich, und schließlich hatte er gar nicht mehr an die Sache gedacht. Die Mission führte jährlich Entwurmungskuren bei Eingeborenenkindern bis fünfzehn Jahren durch. Die Kinder bekamen das Mittel verabreicht und, um den bitteren Geschmack zu vertreiben, ein deutsches Karamelbonbon hinterher. Die Kinder kamen nicht gern. Es war, als genierten sie sich, einen weißen Saft aus einer weißen Tasse vor weißen Frauen in weißen Gewändern zu trinken. Manche der Kinder brachten ihre älteren Geschwister mit, Gekreische war in der Station, aber auch Lachen und Fußballspielen mit dem Lederball, der dem Leiter der Mission, Pater Martin, gehörte. Alverdes war gerade auf dem Rückweg von einer Fußwanderung durch die Hügel, als er drei Meilen vor der Station einem Jungen begegnete, nicht älter als zwölf Jahre, der sich wohl vertrödelt hatte und hinter seinen Freunden geblieben war. Er ließ den Jungen an sich vorübergehen und schoß ihm aus nächster Nähe in den Rücken. Er ging weiter, besann sich aber anders, kehrte um und setzte sich neben den schmächtigen Leichnam, dicht neben ihn, wie ein trauernder Vater. Er riskierte es, erwischt zu werden, was ihm gleichgültig gewesen sei. Er habe nichts empfunden, sagte er später aus. Aber ein trauriger Gedanke sei ihm gekommen: daß die Eroberung der Welt, ohne Unterschied, was einer darunter verstehe und auf welche Weise er dabei vorgehe, immer darauf hinauslaufe, daß sie jemand anderem weggenommen werde. Ein toter Mensch ist wie der Kadaver eines Tieres. Und die Wahrheit gilt nicht überall in derselben Stärke. Sie nimmt ab mit der Entfernung. Meistens hat sie nur dort wirklich triftiges Gewicht, wo einer zu Hause ist. Als er so neben dem toten Jungen kauerte, habe er kein Gespür mehr für sein eigenes Lebensalter gehabt. Zukünftiges oder Vergangenes waren wie rechts und links, Ansichtssache, Frage des Standpunkts, belanglos. Als ob sich sein Leben auf die kleine Fläche reduziert hätte, die seine Stiefel benötigten, um ihn in der Hocke zu halten. Ein stiller, warmer, trockener Duft stieg vom Boden auf. Freilich sei ihm klar gewesen, daß es sich nicht gehöre, in so einer Situation nichts zu empfinden. Und dann war — wenigstens für ein paar Jahre — tatsächlich Schluß damit.
4
Hendrik Witbooi, der» Kapitän «der Nama, hielt den Frieden, den er versprochen hatte, nicht ein. Er war im Umgang mit den Kolonialmächten gewiefter als Maherero, hatte mit den Franzosen und Portugiesen im Norden einige Erfahrungen gewonnen und mit den Engländern im Süden, und diese Erfahrungen sagten allesamt das gleiche: daß er und sein Volk vor dem Zusammentreffen mit den Weißen mehr Rinder besessen und sich freier hatten bewegen können als nachher. Und auf die Deutschen war er nicht besser zu sprechen; spätestens seit ihm ein verirrter Däne auseinandergesetzt hatte, daß der Herr Lüderitz, der hier als erster die deutsche Fahne hißte, ein Betrüger gewesen war, der ein Vielfaches an Land schlicht dadurch gewonnen hatte, daß er deutsche Meilen gesagt, aber englische Meilen gemeint hatte. Nach einem unbedeutenden, von ihm selbst mutwillig angezettelten Scharmützel mit einer Schar Herero bat Witbooi um Dr. Leutweins und des Deutschen Reiches Hilfe — ein Trick, um den Landeshauptmann bloßzustellen: Die deutsche Schutztruppe bestand inzwischen aus neununddreißig so gut wie gar nicht ausgebildeten Männern, die über beinahe ebenso viele so gut wie schrottreife Gewehre verfügten. Das Deutsche Reich konnte die Nama nicht beschützen. Und: Es konnte das Eigentum seiner Bürger vor den Nama nicht schützen! Vor Leutweins Augen trieb Witbooi die Rinder von drei deutschen Höfen. Was die Farmer als dreisten Diebstahl bezeichneten, der von der Schutzmacht bestraft werden müsse, nannte er Entschädigung für einen gebrochenen Vertrag.