Alverdes verhandelte mit dem alten Häuptling. Der legte den Boden mit Tüchern aus und bot ihm Platz in der Mitte. Fragte ihn Dinge, die mit der Sache nichts zu tun hatten. Vor allem interessierte er sich für den Kaiser. Was der trage. Wie viele Frauen der habe. Wie gut der reiten könne. Ob er, Alverdes, einer seiner Söhne sei. Alverdes traf mit dem Häuptling eine private Abmachung: Gleich wie die Sache ausgehe, er, Hanns Alverdes, Sohn des deutschen Kaisers, werde sich nie an einem Zug gegen Witbooi beteiligen; Witbooi dagegen werde ihn für alle Zeit ungehindert durch sein Land ziehen lassen.
Einen Teil der Rinder brachte Alverdes zurück. Für die Farmer war er dennoch ein Verräter. Allein die Tatsache, daß er zu Verhandlungen geraten und Verhandlungen geführt hatte, war für sie ein Beweis, daß er die Argumente des anderen immerhin nachvollziehen konnte. Dem anderen aber, so war ihre Meinung, dem anderen könne man nicht mit Argumenten kommen, sondern nur mit Kugeln.
«Auf welcher Seite stehen Sie?«wurde Alverdes gefragt.
«Auf der Seite des Handels und des Gesetzes«, war seine Antwort.
Landeshauptmann Leutwein forderte einen Trupp Soldaten, und diesmal kam Berlin seinen Wünschen nach. Und schickte gleich ein paar Kanonen mit. Witbooi, der für den Landeshauptmann nichts weiter als ein Bandit war, wurde in den Norden getrieben. Mit den Herero dagegen schaffte er gutes Einvernehmen. Und wieder war es Hanns Alverdes, der sich als Übersetzer und Berater — Berater beider Seiten! — als unverzichtbar präsentierte. Am Ende zog Samuel Maherero über seinem Haus die deutsche Fahne auf, und ein musikalischer Gefreiter der deutschen Schutztruppe studierte mit einem» Negerchor «die deutsche Hymne ein. In diesem Jahr erschoß Alverdes fünf weitere Menschen, drei Frauen, zwei Männer, alle unterschiedlichen Alters, alle vom Stamm der Herero. Die Morde wurden den Farmern angelastet. die deutschen Gendarmen ermittelten, wenn man es so nennen will.
Mit jedem Schiff kamen Deutsche ins Land, und mit jedem Schiff waren es mehr, und, anders als ihre Vorgänger, wollten die neuen nicht mehr nur vorübergehend bleiben — Männer, Frauen, Kinder, sie wollten sich hier ansiedeln, feste, gemütliche Farmen gründen, neue Kinder zeugen, die hier Geburtsheimat hatten, die echte Südwestler sein würden. Andere träumten von Fleischfabriken, in denen diese merkwürdigen Rinder mit den gewaltigen Hörnern in Blechdosen gepreßt und verlötet wurden, damit sie sich platzsparend in den Bäuchen der Schiffe, die zurück in die alte Heimat fuhren, stapeln ließen.»Deutschland kaut Afrika!«kalauerte ein blonder Hesse, und das war die Devise. Land wurde gebraucht.
Land wurde erworben. Das war leicht und billig. Lachend gaben die Herero ihre Weiden und bekamen dafür buntes Zeug und Blechstücke, Draht und Drahtseile, Glaswaren, Herrenanzüge, Hüte, deren eine Krempe hochgeklappt war, Lederstiefel, Koppeln — auch Gewehre bekamen sie, ein Gewehr für hundert Hektar Land und noch einmal hundert Hektar gegen ein paar Kisten Patronen.
«Braucht es noch einen weiteren Beweis für die Dummheit der Neger?«bemerkte kopfschüttelnd ein Familienvater aus der Nähe von Schleswig zu Alverdes, der gern den Einschlag von Platt hörte, weil es ihn an eine Zeit erinnerte, die ihm ferner war als alles, was er von Geschichte je gehört hatte.
«Sie denken dasselbe über euch«, gab er dem Mann zur Antwort und erklärte dem biederen Gesicht, das ihm unfaßbar unvorbereitet schien für das Abenteuer, in das es getragen worden war, was er damit meinte.»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen die Luft abkaufen wollte, die Sie atmen?«
«Ich würde lachen und Sie für einen Dummkopf halten. Sie gehört Ihnen ja schon. Sie brauchen dafür nicht zu zahlen. Die Luft gehört allen.«
Und dann, als die Herero weiter ihre Rinder über das Land trieben, holten die Farmer die Soldaten, die richteten die Gewehre auf die Köpfe und die Geschlechtsteile ihrer Geschäftspartner.
Bei seinem achten Mord hatte Alverdes einen Zeugen, nämlich einen deutschen Gendarmen aus Okahandja. Der Mann hieß Wipplinger und stammte aus dem Allgäu. Er war erst seit einem halben Jahr in Südwest und der friedlichste Mann, der sich denken läßt. Er war gerade im Begriff, einen jungen Hereromann, der beim Diebstahl einiger Küchengeräte erwischt worden war, in den Kotter zu bringen, als Alverdes auf den Platz trat. Es war mitten am Tag vor dem Amtsgebäude. Obwohl Alverdes dauernd unterwegs war, kannte ihn hier jeder. Die Farmer fürchteten sich ein wenig vor ihm, weil sie nicht abschätzen konnten, wie weit und in welche Richtungen sein Einfluß reichte; und sie ärgerten sich über ihn, weil er ein» Negerfreund «war; aber sie schätzten ihn auch, das heißt: Sie brauchten ihn, denn sie kannten keinen anderen, der über dieses Land so viel wußte und der vor Babel geboren zu sein schien, denn es gab keine Zunge, in der er nicht reden konnte; er kannte alle Gesetze des Deutschen Reiches, alle Bräuche und Riten der Eingeborenen, er konnte mit allen Geschäfte machen, mit den verschlagenen Belgiern ebenso wie mit den sturen Portugiesen, er brachte die hochnäsigen Engländer zum Nachgeben und hielt den brutalen Holländern stand. — Jeder Deutsche in diesem Land kannte Hanns Alverdes. Kaum einer war schon länger in Südwest als er.
Gendarm Wipplinger hatte gewartet, bis Alverdes ihn erreichte. Der junge Herero trug eine französische Gabardinehose, sonst nichts, am Gürtel hielt ihn Wipplinger fest.
«Er hat Eßbesteck gestohlen«, begrüßte er Alverdes.
Ohne ein Wort zog Alverdes seinen Revolver, hielt ihn dem schwarzen Mann an die Schläfe und drückte ab. Das Blut schoß in einem hohen Strahl aus dem Loch. Wipplinger schleifte den Toten an Gürtel und Arm über den Platz und hinein in seine Amtsstube. Nun erst fand er stammelnde Worte und keuchte irgend etwas vor sich hin, er müsse das melden, er wisse nicht, was der Grund für diese Tat sei, sicher gäbe es einen Grund, sicher einen guten Grund, nur hätte er die Sache gern anders erledigt gesehen — und so weiter. Alverdes saß währenddessen auf dem Amtssessel und nickte nur. Noch immer hielt er seinen Revolver in der Hand. Eine junge Frau betrat das Büro, eine Deutsche, Alverdes kannte sie, sie war zusammen mit einer Familie aus der Nähe von Braunschweig nach Südwest gekommen. Sie war nicht restlos richtig im Kopf, er wußte nicht, ob sie eine Tochter der Familie war oder eine Dienstmagd. Sie hatte Eimer und Wischer in den Händen, schaute auf den toten Mann mit der purpurschwarzen Gesichtshälfte, schaute auf Wipplinger, zuletzt auf Alverdes. Eine Miene absoluter Gleichgültigkeit zog über ihr Gesicht, sie wollte etwas sagen, aber sie schmatzte nur mit den Lippen.
«Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Alverdes. Dann schoß er Wipplinger ins Herz. Die Frau drehte sich um und ging aus dem Haus, langsam, so langsam, wie sie gekommen war, und Alverdes blieb zwischen den Leichen sitzen und wartete auf die Folgen.
Aber es gab keine Folgen.
Mit dem nächsten Dampfer der Reederei Troost fuhr er von Swakopmund nach Hamburg. Das war im Sommer 1901. Er änderte seinen Namen in Achim Herzog, beschaffte sich neue Papiere, bekam eine Anstellung bei einer Handelsgesellschaft, für die er in Afrika tätig gewesen war, lernte Veronika Schneidewind kennen, die Tochter eines Hamburger Großhändlers, und zog in die Geschäftsleitung des Hauses ein. Wenige Tage vor der Hochzeit verschwand er. Er fuhr auf einem Handelsschiff nach Kiautschou, blieb aber nur wenige Wochen in China, dann bestieg er ein Schiff nach Kapstadt.