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Carl war ein sehr reicher Mann; er war — wie ich im Verlauf der Recherche zu diesem Buch bestätigt bekommen habe — Erbe der Feinkost-, Süßwaren- und Kolonialwarenkette Bárány & Co. (das ist nach seinem Großvater Ludwig Bárány), die in mehreren Städten in Europa Kontore und Läden unterhielt oder an solchen beteiligt war. Vieles hatte er verkauft, nicht, weil er das Geld gebraucht hätte, als Universitätsprofessor verdiente er ja auch nicht schlecht, sondern weil er es irgendwann leid war, sich um die Geschäfte zu kümmern. Er war der großzügigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Er legte Wert auf gute Kleidung, bevorzugte Anzüge aus Flanell in den Farben des Herbstes und hatte nie das Haus verlassen, ohne sich eine Krawatte umzubinden. Und so hielt er es auch, als ich ihn — sobald es meine Kräfte zuließen — im Rollstuhl ins Dorf und zum Friedhof vor das Grab von Margarida schob, die dort seit neunzehn Jahren lag, oder wenn ich mit ihm, wie es bald unsere tägliche Gewohnheit wurde, durch den Schneematsch an der Lanserbahn entlangfuhr und über die langen flachen Stufen hinunter zum Lansersee. Sein Mantel mit dem eingeknöpften Winterfutter war mir vertraut wie ein eigenes Kleidungsstück; ich kannte ihn seit meiner Kindheit, er hatte sich immer wieder neue Stücke anfertigen lassen, jedes nach dem Muster des ersten. Wir haben uns übrigens nie umarmt. Daß er mich mit den Händen bei den Oberarmen hielt, das schon. Sein Spezialgebiet war die Zahlentheorie gewesen, über die er einmal sagte, sie sei» schön und ohne Sinn wie das Leben und wie dasselbe bestehend aus einer Aufeinanderfolge von Problemen und Lösungen, was, weil die Aufeinanderfolge sich unendlich fortsetzt, schließlich auch den Begriffen Lösung und Problem jeden Sinn nimmt«.

Zwanzig Tage blieb ich bei ihm. Dann fuhr ich zurück nach Wien und hörte seine Stimme nie mehr wieder. Ich rief bei ihm an, Mobil und Festnetz; er nahm nicht ab. Mehrmals am Tag rief ich an; ich sprach auf den Anrufbeantworter, bat ihn, mich zurückzurufen. Er rief nicht zurück. Schließlich erhielt ich einen Anruf von seiner Pflegerin Frau Mungenast. Sie teilte mir mit, daß Professor Candoris am Abend in seinem Bett eingeschlafen und am Morgen nicht mehr aufgewacht sei.

Mein Name ist Sebastian Lukasser. Ich bin Schriftsteller, zweiundfünfzig Jahre alt und lebe in Wien, allein; unterhalte eine Beziehung zu einer Frau, die achtzehn Jahre jünger ist als ich und die das, was wir miteinander haben und was wir füreinander sind, genau so bezeichnet hat, nämlich als Unterhaltung — wogegen ich viel einzuwenden hätte, allerdings nicht das, was sie sich erhofft.

Vor langer Zeit war ich verheiratet. Ich habe einen Sohn; er wohnt bei seiner Mutter in Frankfurt; vor einem Jahr hat er mich besucht, da hat er mich zum erstenmal aus bewußten Augen angeschaut. Wir saßen zusammen in meiner Küche, als Frau Mungenast anrief.

Meine Mutter lebt noch, mein Vater nicht mehr. Meine Mutter habe ich fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, erst wieder bei Carls Beerdigung. Dieses Buch wird auch das Resümee meiner Familie werden, und ich befürchte, ich trete damit für immer aus ihr heraus; was natürlich eine Illusion ist, denn unsere Familie hat bereits mit Carls Tod aufgehört zu existieren.

Carl hatte nie viel übrig gehabt für Gesprächsverzierungen. Ich war noch keine fünf Minuten in Lans, hatte das Haus noch gar nicht betreten — wir saßen in der Februarsonne im Schutz des an der Wand aufgestapelten Brennholzes —, da kam er bereits auf das Wesentliche — sein Wesentliches! — zu sprechen, nämlich, daß er mehr von mir wolle, als daß ich ihm lediglich an seinem Ende etwas Gesellschaft leiste. Ob ich mir vorstellen könne, etwas über sein Leben zu schreiben. Korrigierte sich gleich — als hätte er nicht jedes Wort im vorhinein abgewogen und geprüft:»Nicht über. Und auch nicht etwas. Daß du mein Leben nacherzählst. Das meine ich.«

Also eine Beichte. Ich gebe zu, das war mein erster Gedanke. Der zweite war: Er kann es nicht ernst meinen. Wir sahen uns an, und was ich erwartete, fand ich in seinem Blick: den Zweifel, der sich sogleich bei ihm meldete, ob ich wirklich der Richtige sei; und fand nicht: den Zweifel, ob das ganze Unternehmen richtig sei.

«Bevor du mir antwortest«, unterbrach er meine Gedanken,»möchte ich etwas klären. Es wird Geld zwischen uns keine Rolle spielen. Wenn du willst, daß ich dir etwas für diese Arbeit bezahle, sag es mir gleich. Ich sage dir gleich, ich würde es nicht verstehen. In diesem Falle bitte ich dich, meine Anfrage zu vergessen. Solltest du aber mit meinem Vorschlag einverstanden sein, werde ich in einem Schriftstück beim Notar hinterlegen, daß alle Einkünfte, die aus einer eventuellen Veröffentlichung meines Lebens erwachsen, ausschließlich dir zustehen.«

«Wieviel Zeit gibst du mir?«

«Wenn du pissen mußt, piß an die Fichte. So viel Zeit gebe ich dir.«

Ich hatte bereits über ihn geschrieben! Zwei kurze Erzählungen von knapp zehn Seiten jede. In einer der beiden habe ich ziemlich getreu jene Geschichte erzählt, als Carl Ende der dreißiger Jahre in London von einem Offizier der Royal Air Force als Agent angeworben worden war, damit er über seine deutschen Mathematiker- und Physikerfreunde herauskriege, wie weit die Nazis in der Uranforschung seien. Die Pointe der Geschichte — in Wirklichkeit und in meiner Erzählung —: Carl (in meiner Geschichte heißt er Phillip) fragt den Offizier, wieviel Zeit er ihm gebe, um sich zu entscheiden; der Offizier antwortet:»Bis ich mein Wasser abgeschlagen habe.«

«Ich würde niemals Geld von dir nehmen«, sagte ich.

«Das weiß ich«, antwortete er,»aber versetze dich bitte in meine Lage. Wäre es nicht sehr arrogant von mir, dieses Thema einfach nicht anzuschneiden?«

In der anderen Erzählung, der älteren, kommt ein Biologe vor, der deutlich die Züge von Carl Jacob Candoris trägt. Bevor ich sie damals veröffentlichte, schickte ich sie meiner Mutter, ohne Kommentar. Sie schrieb mir zurück, schon nach dem ersten Absatz habe sie gewußt, daß es sich bei diesem frostigen Wissenschaftler um Carl handle, und rügte, ich sei ungerecht gegen ihn — was mich in zweifacher Hinsicht verwirrte: erstens war immer sie es gewesen, die Carl ungerecht beurteilt hatte, ihm abweisend und mißtrauisch begegnet war — diese Meinung teilte ich mit meinem Vater —; zweitens konnte ich in dem Charakter des Biologen nichts Kaltes finden; Spitzfindiges ja, daß er vielleicht zu analytisch an seine und die Sache der anderen heranging, aber kalt im Sinne von herzlos, nein. Wie alle meine Bücher habe ich Carl auch den Band geschickt, in dem die Geschichte abgedruckt war. Er hatte mir nicht darauf geantwortet. Erst im Laufe meines letzten Besuchs, wenige Wochen vor seinem Tod, gestand er mir, die Geschichte habe ihn damals gekränkt (was mir eine weitere Bestätigung war, daß meine Mutter ihn besser gekannt hat, als ich es je für möglich hielt, nämlich besser als ich und mein Vater, ja vielleicht sogar besser als Margarida).