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Weihnachten 1903 kehrte Hanns Alverdes nach Deutsch-Südwestafrika zurück. Er wurde in Okahandja verhaftet und ins Gefängnis gesperrt. Die Frau, die Zeugin des Mordes an dem Polizisten Wipplinger gewesen war, hatte ausgesagt. Alverdes beteuerte, er habe im Gegenteil Wipplinger das Leben retten wollen, der Herero habe Wipplinger angegriffen und schließlich auf ihn geschossen; er habe dem Mörder die Waffe entwunden und sie auf denselben abgefeuert. Alle glaubten ihm. Zumal bei dem Geisteszustand der Frau mit einer zuverlässigen Zeugenaussage ohnehin nicht gerechnet werden durfte. Aber man ließ ihn dennoch nicht frei. Deutsch-Südwestafrika sei ein zivilisiertes Land, hieß es, hier sei das Deutsche Reich, hier herrsche Ordnung, nicht anders als im Deutschen Reich sei auch hier ein Gericht zuständig, wenn es um Mord oder Totschlag oder Tötung aus Notwehr gehe. Nur ein Richter könne darüber entscheiden, was weiter mit ihm geschehe. Bis das Gericht zusammentrete, bleibe er in Gewahrsam. Es wurde gut für ihn gesorgt.

Die Ordnung aber war seit einiger Zeit außer sich geraten.

Wegen der aus dem Süden eingeschleppten Rinderpest und einer Heuschreckenplage hatten die Herero in einem Jahr fast zwei Drittel ihrer Rinder eingebüßt. Als Folge war der Fleischpreis gestiegen. Etliche deutsche Farmer, die nur Ackerbau betrieben hatten, ergriffen die Gelegenheit, um auf Viehzucht umzusteigen, die bisher den Herero vorbehalten war. Die Herero standen vor dem wirtschaftlichen Ruin und waren gezwungen, ihre Lebensmittel auf Kredit bei den Deutschen zu kaufen. Als die Rückzahlfristen verstrichen, wurde ihnen das Land genommen. Inzwischen wußten die Herero, daß ihr Land einen Wert besaß. Ihre Weidegebiete, die nördlich von Windhoek bis zum Ovamboland reichten, wurden zerstückelt, die Farmer errichteten Zäune, sie hielten die ehemaligen Besitzer mit Waffen von den Brunnen fern. Im Januar 1904 griffen die Herero deutsche Siedler an. Ihr Anführer war Samuel Maherero. Gouverneur Leutwein — inzwischen ließ er sich nicht mehr mit Landeshauptmann ansprechen — stellte sich mit seiner Schutztruppe den Aufständischen entgegen. Das Ergebnis war ein Desaster: Ein Viertel seiner Leute wurde erschossen, die meisten mit Gewehren, die vor nicht langer Zeit gegen Land getauscht worden waren. Maherero stürmte das Amtsgebäude von Okahandja, verwüstete das Büro sowie die Wohnung des Polizeimeisters und — befreite den einzigen Gefangenen, der in dem engen Raum mit der eisenbeschlagenen Tür einsaß.

Es fiel Alverdes nicht schwer, seinem Freund zu erklären, warum er als Deutscher in einem Gefängnis der Deutschen sitze. Seine eigenen Landsleute, sagte er, seien über ihn hergefallen, weil er sie beschimpft hätte; er habe die Partei der Herero ergriffen, habe die Deutschen des Betrugs und der brutalen Ausbeutung bezichtigt, habe am Ende geschworen, er werde sich nie gegen das Volk der Herero und dessen Kapitän, seinen Freund Samuel Maherero, stellen; daraufhin hätte ihn Gouverneur Leutwein ins Gefängnis geworfen.

Von nun an kämpfte Hanns Alverdes auf der Seite der Herero gegen die Deutschen. Er wußte, auf welchen Farmen die meisten Waffen zu finden waren, denen gingen sie bei Tag aus dem Weg; in der Nacht aber brachen sie ein, töteten die Bewohner im Schlaf und nahmen sich die Gewehre. Alverdes wußte auch, wo die Vorräte der Stadt aufbewahrt waren; sie plünderten und legten Feuer. Und: Er wußte, wo die Familie jener Frau lebte, die ihn verraten hatte. Unter der Angabe, dort halte sich einer der schlimmsten Scharfmacher gegen die Herero auf, führte er die Aufständischen vor die Stadt. Sie überfielen die Farm, töteten alle Tiere, töteten den Besitzer der Farm, töteten dessen Frau, töteten die drei erwachsenen Söhne, deren Frauen und deren sechs Kinder. Die Magd, die nicht richtig im Kopf war, fing wie wahnsinnig an zu schreien, als sie Alverdes erkannte, und sie hörte nicht mehr auf. Sie wurde zu Boden gerissen, und vier Männer stellten sich auf ihre Arme und Beine. Alverdes trieb zugespitzte Holzkeile durch ihre Hände und Füße und pflockte sie am Boden vor der Scheune fest. Er bat Maherero, ihn allein zu lassen. Er häufte Stroh auf ihren Körper und zündete es an. Er setzte sich neben die schreiende Frau, deren Leib brannte, legte Stroh und Holzspreißel nach, bis sie tot war.

Gouverneur Leutwein zog sich nach Swakopmund an die Küste zurück und sandte um dringende Hilfe nach Berlin. Seine Schilderung der Situation muß sehr eindringlich gewesen sein — was seine eigene Position betraf, sogar zu eindringlich. Der Kaiser schickte ein Expeditionskorps unter dem Befehl von Generalleutnant Lothar von Trotha, das aus gut tausend Mann bestand. Weitere Truppen würden folgen. Von Trotha beschimpfte Leutwein als einen weichen und unfähigen Charakter, setzte ihn von seinem Posten ab, stellte das Land unter Kriegsrecht und marschierte gegen die Aufständischen, wobei die Soldaten nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar das ausdrückliche Wohlwollen ihres Anführers hatten, auf Schwarze, die sie unterwegs trafen, zu schießen, egal, ob es sich um Rebellen oder harmlose Bauern, ob es sich um Männer, Frauen oder Kinder handelte. Von Trotha war ein Experte im Neutralisieren von Revolten; er hatte sich bereits im Jahr 1896 bei der Niederschlagung des Waheheaufstands in Deutsch-Ostafrika einen Namen gemacht und seinen Ruf 1901 während des sogenannten Boxeraufstands in China bestätigt. Seine Methode charakterisierte er selbst so:»Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst Grausamkeit auszuüben war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut.«(Zitiert bei H. Leopold)

Als von Trotha mit den Kämpfern der Herero in ersten offenen Kontakt geriet, befehligte er zwanzigtausend Mann. Die Truppe war mit Panzerzügen, Geschützen, Maxim-Maschinengewehren und den neuesten Nachrichteninstrumenten ausgerüstet; die Herero hatten dem einige hundert Gewehre, knappe Munition, Speere, Lanzen und Pfeil und Bogen entgegenzusetzen. Dennoch gelang es von Trotha lange nicht, den Feind substantiell zu schwächen; im Gegenteil, es schien, als würden seine Truppen von ihm an der Nase herumgeführt. Tagsüber war nicht ein Schwarzer zu sehen; die wenigen Hütten, die die Aufständischen nicht selbst abgebrannt hatten, waren leer; die Spurenleser — die meisten vom Stamm der Nama, dessen Anführer damals noch glaubte, ein Bündnis mit dem Deutschen Reich werde in Zukunft Vorteil bringen — mußten zugeben, daß sie ständig in die Irre geführt wurden, konnten aber ihrem Auftraggeber nicht erklären, was dabei das Ziel und die Absicht des Feindes sei, ob er die Deutschen in einen Hinterhalt locken oder bloß verwirren wollte. Eines Nachts wurde das Lager angegriffen, und als es hell wurde, war das Ergebnis zu sehen: Der bestbewaffneten Truppe des südlichen Afrika waren verheerende Verluste zugefügt worden. Die Stimmung bei den deutschen Soldaten war dementsprechend schlecht; die schon länger in Südwest dienten, begannen an den Fähigkeiten von Generalleutnant von Trotha zu zweifeln.

Die Taktik der Herero (heute würde man von Guerillataktik sprechen) sei, so behauptete Alverdes später vor Gericht, ausschließlich von Samuel Maherero entwickelt worden.»Bei aller Abscheu gegenüber diesem Mann«, so wird der Angeklagte im Prozeßprotokoll zitiert,»muß man doch zugeben, daß er ein außerordentliches militärisches Talent besaß. «Diese Aussage darf man relativieren: Niemals hätte Alverdes vor dem deutschen Gericht eingestanden, Maherero wenigstens beraten zu haben. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß er als der Verantwortliche für dieses An-der-Nase-Herumführen des Expeditionskorps gesehen werden muß. Samuel Maherero hätte sich eine Kriegerschar wie die seines Feindes, bevor er sie zum erstenmal vor sich sah, nicht einmal vorstellen können. Die Kämpfe gegen die Nama oder gegen andere Stämme waren Massenraufereien gewesen, es gab keine Strategie und keine Taktik zu entwickeln; die einen kämpften gegen die anderen, und alle kämpften auf einmal und kämpften so lange, bis alle erschöpft waren. Daß die Deutschen ein Heer aufgestellt hatten, das zahlenmäßig ein Viertel des gesamten Volkes der Herero ausmachte, Frauen, Kinder, Alte mit eingerechnet, dazu Waffen von einer Zerstörungskraft besaßen, die den Herero als nicht von dieser Welt erscheinen mußten, dem Kapitän das zu erklären, dazu hätte die Zeit, die ihm und seiner Sache blieb, nicht ausgereicht. Herwig Leopold geht in seinen Kriminalprozessen davon aus, daß Alverdes, jedenfalls in dieser Phase des Kampfes, das Heer der Herero geführt hat. Die Rebellen zerstörten Eisenbahnbrücken und rissen Schienen aus ihren Kofferungen und behinderten so den Nachschub für die deutschen Truppen; sie kappten wichtige Telegraphenverbindungen in die Hauptstadt und überfielen die Höfe deutscher Siedler, raubten Lebensmittel und Waffen.