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Die Hererokrieger hatten ihre Familien im Troß, weil sie fürchteten, das Deutsche Reich werde mit ihren Frauen und Kindern, wenn es sie unbeschützt träfe, kein Erbarmen haben (was die Soldaten des Deutschen Reiches dann ja auch nicht hatten); und sie trieben ihr Vieh vor sich her, weil es sonst vom Deutschen Reich requiriert worden wäre (was deutsche Farmer dann ja auch taten). Nachdem er sein Volk ein halbes Jahr lang kreuz und quer durch das Land geführt hatte, verschanzte sich Maherero am Waterberg bei Hamakari, um aus sicheren Stellungen heraus so lange dem Feind standzuhalten, bis der zu Verhandlungen und Zugeständnissen bereit wäre. Sicher rechnete er damit, daß Alverdes als Vermittler mit den Weißen rede. Hätte Gouverneur Leutwein die deutschen Truppen befehligt, wäre der Krieg wahrscheinlich auf diese Art und Weise beigelegt worden. Von Trotha aber dachte keinen Augenblick daran, mit diesen Menschen zu reden, er sah in ihnen nichts weiter als Affen, Paviane, die dem Deutschen Reich im Weg waren.

Am 11. August 1904 kam es zur letzten Schlacht. Gegen die neuen Geschütze der Deutschen boten die Stellungen der Herero wenig Schutz. Nicht ein einziger Speer, kein Pfeil, keine Lanze verließ das Knäuel der Schreienden und Sterbenden. Die Munition war verschossen. In Panik liefen die Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm in die Kugeln der automatischen Geschütze. Maherero sah keinen anderen Ausweg, als alles zurückzulassen und mit dem Gros seines Volkes an der schwächsten Stelle der Umzingelung durchzubrechen — in die Omaheke, einen Ausläufer der Kalahariwüste! Die deutschen Truppen verfolgten die Fliehenden bis über die letzten Wasserstellen hinaus. Die Brunnen wurden mit bewaffneten Wachposten besetzt; die hatten Befehl, jeden, der sich dem Wasser näherte, zu erschießen. In breiter Front riegelte von Trotha die Wüste ab. Nach wenigen Wochen schickte Maherero fünfzehn Unterhändler, um die Modalitäten seiner Kapitulation auszuhandeln. Von Trotha ließ zehn von ihnen aufhängen, die anderen jagte er in die Wüste zurück. Eine Proklamation hatte er ihnen mitgegeben. Sie war in Otjiherero verfaßt, der Sprache der Herero:

«Ich, der große General der Deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder, der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält tausend Mark, wer Samuel Maherero bringt, erhält fünftausend Mark. Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit der Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers.«

(Bundesarchiv Potsdam, Akten des Reichskolonialamtes, 10.012089 BI. 7, Abschrift Kommando Schutztruppe 1 Nr. 3737, Osombo-Windhuk, 2.10.1904)

Von den hunderttausend Herero — so eine zeitgenössische Schätzung — starben achtzigtausend, die meisten an Hunger und Durst. Die überlebt hatten und aufgegriffen worden waren, wurden in Konzentrationslager gesperrt. Samuel Maherero gelang es, sich mit wenigen hundert nach Britisch-Betschuanaland, dem heutigen Botswana, durchzuschlagen, wo er 1923 starb. Von Trotha wurde abgelöst — nicht zuletzt, weil die Sozialdemokraten im Berliner Reichstag unter der Führung ihres Vorsitzenden August Bebel heftig gegen diesen» Vernichtungsfeldzug «protestierten. Als neuen Gouverneur setzte der Kaiser Friedrich von Lindequist ein.

Erst nach einigen Wochen wurde entdeckt, daß sich unter den Gefangenen ein Weißer befand, sein Name: Hanns Alverdes. Er wurde nach Deutschland gebracht und in Berlin vor Gericht gestellt.

Das war im Jahr 1907. Carls Großonkel war damals fünfunddreißig Jahre alt.

5

«In einem spektakulären Verfahren«, hörte ich Carls inzwischen atemschwere Stimme neben mir sagen,»wurde mein Großonkel Hanns zum Tode verurteilt. Er war zunächst zweier Verbrechen, nämlich des Landesverrats und des Mordes an dem deutschen Polizisten Wipplinger, angeklagt. In letzterem Fall stützte sich die Staatsanwaltschaft auf die Aussage der Zeugin, wie sie von einem Angehörigen der Schutztruppe in Okahandja niedergeschrieben und mit drei Tintenkreuzen von ihr bestätigt worden war, nämlich einige Jahre, bevor sie während des Aufstands auf bestialische Weise ermordet wurde. Das Gericht folgte den Ausführungen von Dr. Zitschin und glaubte Hanns Alverdes, der nach wie vor behauptete, der Hereromann habe Wipplinger erschossen und daraufhin er den Hereromann; und glaubte nicht den Schilderungen der Frau, die in dem Protokoll ihrer Einvernahme als schwachsinnig bezeichnet wurde. Die Anklage wegen Landesverrats dagegen war nicht so leicht zu entkräften. Alverdes habe Seite an Seite mit Maherero am Waterberg und in der Wüste gekämpft; soundso viele deutsche Soldaten bezeugten dies — alle schriftlich übrigens, sie waren nämlich samt und sonders noch in Deutsch-Südwest stationiert, und der Generalstab dachte nicht daran, wegen so einer Veranstaltung den Männern die Fahrt von Windhoek nach Berlin und wieder zurück zu bezahlen. Sie bezeugten, sie hätten den Kaufmann Alverdes, den in Deutsch-Südwestafrika jeder kenne, in der Schlacht am Waterberg kämpfen sehen. Dr. Zitschin fragte, warum sie nicht auf der Stelle Meldung erstattet hätten. Der Staatsanwalt antwortete an ihrer Statt, die Männer hätten ihren Augen nicht getraut, weil sie einen solchen Verrat nicht für möglich hielten — womit er nicht nur Landesverrat, sondern vor allem Rassenverrat meinte, wie er unmißverständlich zum Ausdruck brachte. Eine Verurteilung schien zwingend, schon weil man ein Exempel statuieren wollte.

Und nun Achtung! Nun folgt, was den Prozeß zu einer Sensation werden ließ, über die noch viele Jahre gesprochen werden würde. Ohne daß sich mein Großonkel mit seinem Anwalt abgesprochen hätte, bat er den Richter, ihm das Wort zu erteilen. Er wolle dem Gericht und dem ganzen Land beweisen, daß er nicht nur kein Verräter, sondern im Gegenteil ein noch schärferer Rassist sei als der Staatsanwalt, ein grimmigerer Feind der Neger als selbst Generalleutnant Lothar von Trotha. Nein, er sei nicht ein Mitstreiter von Samuel Maherero gewesen, sagte er, sondern dessen Gefangener und Geisel. Und daß der Kapitän ihn beim Waterberg nicht zurückgelassen, sondern mit in die Omaheke geschleppt habe, sei, vom Standpunkt dieses Feindes des Deutschen Reiches aus betrachtet, durchaus folgerichtig gewesen, denn auch er habe, ähnlich wie es nun der Staatsanwalt von diesem Gericht verlange, an ihm, Hanns Alverdes — im Dienste des Deutschen Kaiserreiches Handelsmann in Afrika seit 1884 — ein Exempel statuieren wollen, habe er ihn doch als den erkannt, der er war: der Widersacher seines Volkes. Vor den fassungslosen Anwesenden breitete mein Großonkel nun seine Mordtaten aus, schilderte sie bis in die Einzelheiten, angefangen bei dem alten Herero an der Wasserstelle, weiter, daß er den Buben auf dem Weg zur Missionsstation in Otjimbingwe in den Rücken geschossen und versucht habe, seinen kleinen Finger abzubeißen, erzählte ohne Scham und Reue von den Männern und Frauen, die er gleichsam im Vorbeigehen erlegt habe; schilderte haarklein die bestialische Tat an der schwachsinnigen Frau; daß diese eine Deutsche gewesen war, bestritt er gar nicht, behauptete aber, daß sie sich den Negern als Hure verkauft habe — was aus der Luft gegriffen war. Was er bei seinen Taten empfunden hatte, nämlich nichts, daß er in Wahrheit in keinem der Fälle einen Grund für seine Tat gehabt hatte, außer dem letzten, als er die Frau vor der Scheune auf dem Boden gekreuzigt und lebendig verbrannt hatte, um sich dafür zu rächen, daß sie ihn angezeigt hatte, das trug er dem Gericht freilich nicht vor. Darüber sprach er erst viel später.