Aber: Mord ist Mord, und in Deutschland herrschen Recht und Ordnung. Jawohl, betonte der Richter, Mord ist Mord und bleibt Mord, und Mord an einem Neger werde von einem deutschen Gericht erst dann nicht als solcher gewertet, wenn ein Gesetz verabschiedet sei, das den Negern das Menschsein abspreche. Hanns Alverdes wurde vom Vorwurf des Landesverrats freigesprochen. Er wurde vom Vorwurf des Mordes an dem Polizisten Wipplinger freigesprochen. Er wurde schuldig gesprochen des Mordes an der deutschen Frau, und er wurde schuldig gesprochen des Mordes an acht Mitgliedern des Volkes der Herero. Und er wurde zum Tode verurteilt.
Aber das Urteil ist nicht vollstreckt worden. Die Strafe wurde in lebenslänglich abgemildert. Und weil die ersten Seelenexperten des Reiches meinen Großonkel für verrückt erklärten, und zwar so verrückt wie eine Scheißhausfliege, wurde aus lebenslangem Gefängnis lebenslanges Irrenhaus. Zuerst hat man ihn nach Plötzensee gebracht. Da hätte man ihn gleich an die Wand stellen können. Meine Großmutter und Tante Franzi drängten meinen Großvater, er solle alles, was in seiner Macht stehe, aufbieten, um ihren Bruder dort herauszuholen. Also, meinem Großvater war die Sache ekelhaft, er hätte am liebsten nie etwas davon erfahren, und er hatte absolut nichts dagegen, daß man so einen Kerl in eine Anstalt sperrte, es durfte sich dabei auch ruhig um die schlimmste ihrer Art handeln. Tante Kuni hat mir erzählt, es habe lange gedauert, bis er seine eigene Frau wieder so ansehen konnte wie vor dieser Geschichte. Mit den Göttingern wollte er von nun an nichts mehr zu tun haben, weder mit Tante Franzi noch mit Tante Kuni. Er wird sich gedacht haben, ein Dämon steckt in dieser Familie. Ich kann es ihm nicht verdenken. Ich habe mir das auch oft gedacht. Meine Großmutter und Tante Franzi ließen ihm aber keine Ruhe, und so hat er es gerichtet, wie er es eben richten konnte, nämlich mit Geld. Er hat seine Verbindungen spielen lassen und Bestechungsgelder bezahlt, daß man dafür eine Lokomotive gekriegt hätte, damit sein Schwager in die private Heilanstalt Stabenow in Berlin-Zehlendorf überführt wurde. Dort wurde er in ein Spezialzimmer gesperrt. Das mußte man erst bauen. Engvergitterte Fenster. Vor der Tür ein verschiebbares Stahlgitter. Man hatte den Anbau an den hinteren Teil des Hauptgebäudes gesetzt, damit man nicht gleich bei der Ankunft schon sähe: Halt, hier stimmt doch was nicht! Sogar im Versteckten hat man ihn noch versteckt.
Aber er hatte es gut dort. Er war ein Bevorzugter. Bestes Essen. Immer frische Wäsche. Tadellose medizinische Betreuung. Blick auf den Rosengarten. War natürlich teuer die Sache, sehr, sehr teuer. An jedem Monatsersten wurde das Geld überwiesen. Wie lange? So lange der Patient lebt natürlich. Er hat ja lebenslänglich bekommen. Also muß man auch lebenslänglich zahlen. Nicht einmal während der Wirtschaftskrise setzten die Zahlungen aus. Aber mein Großvater stellte eine Bedingung. Nie wieder, nie wieder, das ließ er sich von meiner Großmutter und von Tante Franzi schriftlich geben, nie wieder wird der Name Hanns Alverdes in der Familie erwähnt. Wenn er den Namen auch nur ein einziges Mal hört, läßt er den Dauerauftrag löschen und stellt automatisch die Überweisungen ein. Logischerweise der Sonderpatient nach Plötzensee zurückgebracht werde. Meine Großmutter und ihre Schwester gaben ihr Wort. Damit war der Fall für meinen Großvater erledigt.
Meine Großmutter hat ihr Wort gehalten, sie hat mit niemandem darüber gesprochen. Wenn die Rede auf ihre Familie kam, sagte sie, sie habe noch eine Schwester, die lebe in Göttingen, Franziska heiße sie, und sonst habe sie niemanden. Tante Franzi aber hat ihr Wort nicht gehalten, sie hat die Geschichte ihrer Tochter weitererzählt. Und Tante Kuni hat sie mir weitererzählt. Und ich erzähle sie dir. Und du schreibst sie auf. — Sebastian?«
«Ja?«
«Ich dachte, du schläfst.«
«Warum hast du das gedacht? Warum sagst du das dauernd? Ich schlafe nicht ein!«
«Dein Atem hat sich so angehört.«
Auf dem phosphoreszierenden Zifferblatt meiner Armbanduhr sah ich, daß es gleich fünf war. — Die Geschichte war aber noch nicht zu Ende.
Als Kuni Herzog mit Carl über Hanns Alverdes sprach, wußte sie nicht, ob dieser noch in der Irrenanstalt einsaß oder ob er vielleicht doch in ein Gefängnis verlegt worden war; sie wußte nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Das war um 1930 herum gewesen, zwanzig Jahre nach dem Prozeß. Auch ihre Mutter wisse nichts Näheres; nicht einmal, welche Irrenanstalt es war, wußte sie; Carls Großvater hatte weder seine Frau noch seine Schwägerin informiert. Er sei in guten Händen, hatte er gesagt und sich nicht verkniffen hinzuzufügen:»In besseren, als er es verdient.«
«Natürlich hätte ich gern mehr gewußt«, sagte Carl.»Ich habe Tante Kuni von meiner ersten Erinnerung erzählt. Sie fand das ungeheuer spannend. Sie fand die Tatsache spannend, daß aus unserer Familie ein Ungeheuer hervorgegangen war. Alles war ihr recht. Wenn es nur gegen die Langeweile half. Ich habe mich manchmal gefragt, ob sie auch mit ihrer damaligen Freundin Edith Stein über unseren bemerkenswerten Anverwandten gesprochen hat. Ich bin überzeugt, sie hat. In jenem Sommer, als der Krieg ausbrach, war die Geschichte ja gerade einmal vier Jahre her. Jeder erinnerte sich daran. Es gab immer noch vereinzelt Spinner, für die war Hanns Alverdes ein Held. Diese Spinner hatten sogar Aufwind bekommen. Ein Deutscher, der dem niederen Teil der Welt zeigte, wo der Hammer hängt. Ich habe mich nicht getraut, Tante Kuni zu fragen, was für eine Meinung das Fräulein Stein in dieser Angelegenheit vertreten habe. Ich wollte ihren lieben Namen nicht zusammen mit dem eines Ungeheuers in ein Satzgefüge sperren. Ich sagte bereits, ich bin meinen Tanten während meines Studiums aus dem Weg gegangen. Ich hätte mich unter normalen Umständen auch nicht auf so ein Gespräch mit Tante Kuni eingelassen. Und ich muß auch zugeben, nicht sie hat damit angefangen, sondern ich. Ich habe sie zufällig in der Stadt getroffen, was des öfteren vorkam, dann haben wir uns die Hand gegeben und guten Tag gesagt und noch ein paar verlegene Worte, aber diesmal habe ich sie zu mir auf meine Bude eingeladen. Oh, sie hat sich überschäumend gefreut! Mein Gott, war sie häßlich geworden! Sie war Ende Vierzig und sah aus wie Sechzig. Und gleichzeitig wie Sechzehn. Ein zwischen Welten und Zeiten zerfetztes Gesicht. Sie sagte, es gehe ihr gut. Und Tante Franzi gehe es ebenfalls gut. Ich war gerade aus Moskau zurückgekommen und hatte Eis im Kopf, wirklich Eis im Kopf. Hab’ mich im Mördersein noch nicht eingerichtet gehabt. In so einem Ausnahmezustand sucht man nach Rat. Man schaut sich um. Und findet etwas Vergleichbares in der eigenen Familie. Es liegt in der Familie! Also bitte! Ich habe sie gefragt, ob sie den Namen Hanns Alverdes kenne. Und jetzt ist es aus ihr herausgesprudelt. Es hat mir gutgetan. Es gibt einen, der hat’s noch schlimmer getrieben als du. Du bist nicht der erste, und du bist nicht der einzige. Du bist etwas, das es vorher bereits gegeben hat. Something that has existed before. Ich schlug Tante Kuni vor, daß wir beide uns detektivisch betätigen und herausfinden, wo unser Onkel Hanns sitzt, und daß wir ihn gemeinsam heimlich besuchen und ausquetschen. Der Vorschlag war natürlich nicht ernst gemeint gewesen. Ich wollte lediglich ihre Phantasie etwas aufkitzeln. ›Ich würde ihm nämlich gern seinen Blick zurückgeben‹, sagte ich, ›diesen unheimlichen Blick, den er durch die Haare von Tante Franzi mir zugeschickt hat.‹ Sie hat die Augen nach oben verdreht, und ein Schauder ist über sie drübergelaufen. Und ihr Leben hatte einen Sinn. ›Du meinst, dieser Blick steckt immer noch in dir drin?‹ fragte sie in andächtigem Falsett. ›Ja, das meine ich‹, sagte ich und zog einen bitteren Mund, was pure Schauspielerei war. Aber nicht Tante Kuni war das Publikum, sondern ich selbst. Ich tat vor mir selbst so, als ob ich einen spielte, der so tut, als ob der Blick des Hanns Alverdes noch immer in ihm steckte wie ein rostiges Messer in einem Baumstamm. Um mir selbst vorzumachen, daß es nicht so sei. Derweil ich doch genau wußte, daß es so war. Immer wieder mußte ich Tante Kuni meine Begegnung mit dem unheimlichen Onkel Hanns erzählen. Sie war gierig danach. Sie selbst hatte ihn ja nie gesehen. Meine Vermutung war, er sitze in Rasemühle, dem Sanatorium bei Göttingen. Das schien mir naheliegend, aus der Psyche meines Großvaters geschlossen. Daß der Kerl möglichst nahe an die Göttinger herangerückt wird. Damit alles oder wenigstens das meiste an denen hängenbleibt. Wien ist weit, in Wien geschehen solche bösen Dinge nicht. Eine von den Alverdischen hatte er gerettet, nämlich meine Großmutter, mehr konnte man von ihm nicht verlangen. Die Bestie, die soll dorthin, wohin sie gehört. Nach Rasemühle waren das Fräulein Stein und ich hinausspaziert, ich mit meinen acht Jahren, daran erinnerte ich mich sehr genau, es war ihre Idee gewesen. Auch, daß wir uns in den Park des Sanatoriums schleichen und uns unter ein bestimmtes Fenster stellen, weil dort ein guter Platz war, um einem Jecken zuzuhören, der in seinem Zimmer wirres Zeug jodelte.