Tante Kuni hat sich nicht getraut. Ich habe sie aufgezogen. Und aufgehetzt, bis sie in Panik geraten ist. Sie hat sich vor mir zu fürchten begonnen. Und stell’ dir vor, sie hat mir einen Brief geschrieben. Einen Brief! Sie hat Angst gehabt, mich zu treffen! Sie schrieb, sie habe erfahren, daß H.A. gestorben sei. Und sie bitte mich, den Brief zu verbrennen und nie wieder vor ihr diesen Namen auszusprechen und unter gar keinen Umständen vor meiner Mutter oder vor Tante Friederike zu erwähnen, daß sie mit mir über deren Bruder gesprochen habe. — Nun, ich habe Tante Kuni geglaubt. Die Canaille ist tot. Fragt nicht nach ihr!«
«Und du hast nie mit deiner Großmutter über Hanns Alverdes gesprochen.«
«Nein. Natürlich nicht.«
Herwig Leopold, als er 1962 seine Deutschen Kriminalprozesse schrieb, war ebenfalls davon ausgegangen, daß Hanns Alverdes nicht mehr lebte (damals wäre er neunzig gewesen), daß er irgendwann in den späten dreißiger Jahren gestorben sei. Leopold spricht das zwar nicht dezidiert aus, legt aber den Schluß nahe. Ich zitiere den letzten Absatz des betreffenden Kapitels:
«Das berüchtigte Geständnis des Hanns Alverdes, von ihm selbst als Verteidigung gedacht, hätte die nationalsozialistischen Behörden, die sich als zuständig für die Hygiene des Erbgutes betrachteten, in einige Verlegenheit gebracht. Einerseits machte man mit Verbrechern dieses Kalibers kurzen Prozeß. Andererseits: Kann ein Regime, das in der Vernichtung von minderwertigen Rassen seine vordringlichste Aufgabe sieht, einen Mann in einem Irrenhaus belassen, der von sich selbst behauptete, neun Menschen aus dem alleinigen Grund getötet zu haben, weil ihre Haut schwarz war? Wenn Alverdes ins Irrenhaus gehörte, gehörte das gesamte nationalsozialistische Deutschland dorthin. Goebbels hätte ihn wohl mit Ehrengeleit rausgeholt.«
Zu der Zeit, als Joseph Goebbels dies hätte veranlassen können, lebte Hanns Alverdes noch; und zu der Zeit, als Herwig Leopold sein Buch schrieb, lebte er auch noch.
(Daß die Nazis Alverdes beließen, wo er war, und an der Sache nicht rühren wollten, hatte durchaus einen Grund. Im Herbst 1933 erschien in dem der rassistischen Typenlehre von Erich Rudolf Jaensch nahestehenden, pseudowissenschaftlichen Periodikum Blätter für Psychologie und Anthropologie ein Artikel über Alverdes, dem ein Gespräch mit demselben folgte. Ein anonymer Autor hatte den Einsitzenden besucht, und dieser hatte sich erstaunlicherweise bereit erklärt, Rede und Antwort zu stehen. Zweck dieses Gesprächs war es wohl tatsächlich, erste Schritte zu einer Rehabilitierung zu setzen. Das Interview ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Erstens sind die Fragen durchwegs um ein Vielfaches länger als die Antworten. Die Tendenz ist ihnen deutlich anzumerken. Der Autor wollte offensichtlich von Alverdes dessen damals vor Gericht vorgetragenen rassistischen Standpunkt bestätigt haben — nach dem Motto: Rassenkampf auf eigene Faust. Im Kontra dazu zweitens: Alverdes läßt keinen Zweifel daran, daß ihm die Hautfarbe seiner Opfer in Wahrheit völlig egal war. Sein letzter Satz:»Ich habe es getan, weil ich wissen wollte, wie es ist, wenn man so etwas tut. «Warum die Zeitschrift das Interview dennoch abdruckte, scheint rätselhaft; vielleicht weil die Redakteure der Meinung waren, Neger umbringen ist gut und nicht schlecht, gleich, aus welchem Motiv.)
Carclass="underline" »In den ersten Tagen des Jänners 1976 bekam ich einen Brief von einem gewissen Dr. Jens Lengerke, Psychiater und Leiter der Nervenheilanstalt Stabenow in Berlin-Zehlendorf. Er schrieb, er selbst, aber schon sein Vorgänger, Dr. Schwarz, und auch dessen Vorgänger, Dr. Bredekamp, hätten sich nach eventuellen Angehörigen des in ihrer Anstalt einsitzenden Patienten Hanns Alverdes erkundigt. Ich, Carl Jacob Candoris, sei der einzige, der sich habe finden lassen. Er wolle mir mitteilen, daß mein Anverwandter — in welcher Beziehung ich zu ihm stehe, hätten er und seine Vorgänger nicht herausfinden können — im Sterben liege. Vielleicht wolle ich ihn ja sehen. Er halte das zwar nicht für wahrscheinlich, denn wie er aus den Aufzeichnungen der Anstalt lese, habe Hanns Alverdes seit seiner Einlieferung vor — die folgende Zahl unterstrich er zweimal — 66 Jahren keinen Besuch eines Familienmitgliedes bekommen.
Er lebte also noch. Er war hundertundvier Jahre alt!
Als erstes erzählte ich Margarida die Geschichte. Das dauerte gut einen Tag. Ein Tag war also gewonnen. Ich hatte bis dahin mit niemandem darüber geredet. Ich habe mein Versprechen gehalten. Nun waren sie alle tot: mein Großvater, meine Großmutter, Tante Franzi, Tante Kuni. Alle, nur er nicht. Ihm hatte ich nie etwas versprochen. Margarida bat mich, nicht nach Berlin zu fahren, händeringend bat sie mich, flehte mich an. ›Er macht dich kaputt‹, prophezeite sie mir. ›Quatsch‹, sagte ich, ›er ist hundertundvier Jahre alt, was kann er mir tun? Den hau’ ich doch um mit links!‹ Wieder war ein Tag vergangen, ich habe die Entscheidung vor mir hergeschoben, von einem Tag auf den nächsten. Margarida sagte, wenn ich fahre, werde sie mich begleiten. ›Ich fahre doch nicht in den Urwald, mein Liebling‹, sagte ich, ›nur nach Berlin.‹ Und ich scherzte: ›Er wird mich nicht mehr hochheben und auf den Arm nehmen wollen.‹ Wir haben gelacht. Ein Hundertundvierjähriger hebt einen Siebzigjährigen hoch und nimmt ihn auf den Arm. Ist das nicht komisch? Und schon war wieder ein Tag vergangen. Ich habe noch ein paar Tage verstreichen lassen und noch ein paar Tage. Und als ich mich endlich aufraffte und mich in den Mercedes setzte und über die westdeutschen Autobahnen raste und durch die DDR tuckerte und in Westberlin ankam und ein Zimmer im Kempinski nahm und am nächsten Tag hinausfuhr nach Zehlendorf und dort das Sanatorium Stabenow suchte und es fand — da lebte er nicht mehr. Hanns Alverdes sei vor sieben Tagen gestorben, teilte mir Dr. Lengerke mit. Ohne Vorwurf. Ein noch junger Mann. In deinem Alter, ein, zwei Jahre älter vielleicht, lange lockige Haare. Ich fragte, ob ich mir das Zimmer meines Großonkels ansehen dürfe, ob es noch erhalten sei. ›In eine Gedenkstätte werden wir es nicht umwidmen‹, lachte er. Es sei noch alles so, wie es sechsundsechzig Jahre lang gewesen war. Genau so. Soweit er das mit Hilfe der Aufzeichnungen der Anstaltsleitung überblicken könne, sagte Dr. Lengerke, habe Herr Alverdes nichts in diesem Zimmer verändert. Er führte mich in den hinteren Teil des Gebäudes. Das Haus sei im Laufe der Jahre um die Zelle ihres Dauerpatienten herum umgebaut und renoviert worden, dabei faßte er mich am Ellbogen, das ist etwas, was ich nie leiden konnte. Vor der Tür blieb er stehen. Er werde eine der Schwestern bitten, mir Kaffee zu bringen, sagte er. Ob ich ein Stück Apfelkuchen dazu wünsche? Gern, sagte ich. Und drückte die Klinke zu dem ältesten Zimmer in dieser Anstalt nieder.«