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Sechzehntes Kapitel

1

Erst zehn Tage nach Carls Ableben fand die Beisetzung statt. Ich weiß bis heute nicht, was der Grund für diese ungewöhnlich lange Frist war. Zweimal rief mich Frau Mungenast an, um mir mitzuteilen, daß die Freigabe des Leichnams abermals verschoben worden sei. Ich schickte jedesmal ein Fax nach Fouquières les Béthune — in Deutsch und in Französisch (Evelyn buchstabierte mir die Übersetzung am Telefon) —, in der Hoffnung, meine Mutter würde von ihrer Oberin verständigt und würde die Erlaubnis erhalten, zur Beerdigung eines mit ihr nicht verwandten Mannes zu reisen, und vielleicht gleich auch die Erlaubnis, bei dieser Gelegenheit mit ihrem Sohn und ihrem Enkel zu sprechen. Antwort aus Frankreich bekam ich nicht. Dagmar konnte es sich einteilen. Die dauernden Verschiebungen verunsicherten sie allerdings; es sei» kein gutes Omen«, sagte sie. Was sie damit meine, fragte ich. Sie wisse es nicht, es sei nur so eine Ahnung. Ich hörte einen Ton heraus, der mir bekannt war.»Ist die Schwäbin esoterisch geworden?«fragte ich — beherrschte mich im letzten Augenblick, um nicht» deine Schwäbin «zu sagen. Ich solle sie in Ruhe lassen, entgegnete sie — ohne Wut, ohne Lust zu streiten, ohne genervt zu wirken.

Ich hatte für David Lukasser, Dagmar Lukasser und mich im Hotel Central drei Zimmer bestellt und sicherheitshalber noch eines für meine Mutter, falls sie doch aus Frankreich käme — auf den Namen Schwester Benedicta Teresa.

An der Rezeption fragte ich, ob Frau Lukasser bereits eingetroffen sei. Der junge Mann mit der Kapitänsuniform, dem kahlrasierten Schädel, dem Bocksbärtchen am Kinn und den Tätowierungen, die bei manchen Bewegungen aus dem Hemdkragen und unter den Manschetten hervorlugten, drehte sich zum Schlüsselbord, fuhr mit dem Finger in der Luft die Zimmernummern ab und plapperte unseren Familiennamen vor sich hin.

Ja, Frau Lukasser sei eingetroffen.

David schwang den Rucksack über die Schulter und zog mich über die Stufen hinauf. Er klopfte bei 217, die Tür wurde geöffnet, und meine Mutter stand vor uns. Sie hatte sich unter ihrem — sagt man in diesem Fall bürgerlichen? — Namen eingetragen: Agnes Lukasser.

Alle drei waren wir sehr verlegen.

Sie trug eine Brille, die Hälse an ihren Zähnen waren länger geworden, sie hatte zugenommen. Die Haare hatte sie unter dem Skapulier versorgt. Das grobe, braune Kleid reichte bis zur Mitte der Waden, die waren nackt, die Füße steckten in klobigen Sandalen mit silbernen Schnallen. Ich hatte David ihre Geschichte erzählt, er war darauf vorbereitet, daß sie uns in Ordenstracht gegenübertreten würde. Er erschrak trotzdem. Er gab ihr die Hand und deutete eine Verbeugung an. Sie drückte ihn an ihre Brust und ließ ihn lange nicht los, ihre Hand zitterte über seinen Hinterkopf, und einen Finger drehte sie in seine Haare hinein. Daß ich sie vermißt hätte, hörte ich mich sagen, daß wir endlich wieder alle zusammen seien. Eben nicht alle, korrigierte sie mich. Sie blickte mir auf den Mund, während ich redete, aber das kannte ich von ihr, sie blickte jedem auf den Mund. Mein Vater hat sich einmal bei mir darüber beklagt, weil er meinte, sie höre ihm nicht zu, sie schaue durch ihn hindurch, und ich hatte zu ihm gesagt, sie schaut nicht durch dich hindurch, sie möchte eben nichts von dem verlieren, was du sagst, und darum schaut sie dir auf den Mund, kapierst du das denn nicht?

Auf der Ablage im Eingangsbereich stand ihr Koffer. Es war derselbe, den sie gepackt hatte, als sie sich vor fünfzehn Jahren aus der Welt verabschiedet hatte. Ich war damals bei ihr gewesen in unserem Haus in Nofels, das bereits an jemand anderen vermietet war, der uns aber erlaubte, Dinge, von denen wir nicht wußten, ob wir sie noch brauchten, vorläufig in der Scheune abzustellen. (Eine Frage, um deren Beantwortung wir uns beide drückten: Was sollte mit dem Studio meines Vaters werden, den Aufnahmemaschinen, dem Mischpult, den Mikrophonen, den unzähligen Bändern?) Sie war fröhlich und aufgeregt gewesen, als würde sie als Au-pair-Mädchen nach England fahren. Einen Gegenstand, der sie an meinen Vater erinnere, und einen Gegenstand, der sie an mich erinnere, wolle sie mitnehmen, sagte sie, nur Kleines, und ein Bild von Carl und ein Bild von Margarida. Mehr von der Welt könne sie nicht vertragen. Was, fragte sie, soll mich an dich erinnern? Mein Kopfkissen hatte sie mitgenommen.

David fragte, ob die Kutte angenehm zu tragen sei. Sehr angenehm. Ob das Klosterleben angenehm sei. Sehr angenehm. Ob sie es nie bereut habe. Nie.»Wenn die Menschen wüßten, wie es im Kloster ist, würde niemand mehr draußen leben wollen.«

R und Ü klangen französisch. Bildete ich mir das ein?» Du bist eine richtige Französin geworden«, sagte ich.

«Wie meinst du das?«

«Auf jeden Fall nicht böse.«

«Ich habe sehr gut Französisch gelernt, ja. Falls du das meinst.«

«Sebastian hat mir erzählt«, plauderte David weiter,»ihr dürft im Kloster nicht reden.«

«Dein Vater erzählt viel.«

«Es ist sein Beruf«, kam ich David zuvor, preßte alle entwaffnende Selbstironie, die sich über so einen schlichten Satz transportieren ließ, in meine Stimme,»und er hat von solchen Dingen in Wahrheit keine Ahnung.«

David schien von dem Kampf, der sich zwischen meiner Mutter und mir anbahnte, nichts zu bemerken. Noch keine fünf Minuten waren wir in ihrem Zimmer, und schon hatte mich eine Streitlust ergriffen. David legte sich auf das Bett, die Füße ließ er an der Seite herunterhängen, die Arme verschränkte er im Nacken. Meine Mutter und ich saßen uns gegenüber und vermieden es, uns in die Augen zu sehen. Der Raum war durch eine Neonröhre beleuchtet, die hinter einem altdeutsch furnierten Deckensturz verborgen war. Ich sah mein Gesicht in dem Spiegel an der Wand hinter dem Rücken meiner Mutter.

«Ich habe einen Krebs gehabt«, sagte ich.

«Ich auch«, sagte sie.

Ich griff nach ihrer Hand.»Und? Ist alles gut?«

«Alles ist gut. Und bei dir?«

«Ist auch alles gut.«

Sie wußte nicht, wie sie aus meiner Hand herausfinden sollte, ohne in mir den Eindruck zu erwecken, das Gute sei damit beendet; und mir erging es gleich.

«Darf ich hier bei dir eine rauchen?«fragte David.

«Gern.«

«Möchtest du auch eine?«

«Nein, danke.«

«Dürft ihr nicht rauchen?«

«Wir tun es nicht.«

«Aber grundsätzlich dürftet ihr?«

«Ich glaube schon.«

«Und wenn ich dich besuchen käme, dürfte ich bei euch rauchen?«

«Natürlich.«

«Dürfte ich dich überhaupt besuchen kommen?«

«Wenn du dich vorher anmeldest.«

«Und würdest du das haben wollen?«

«Und wie gern!«

«Und du dürftest mit mir reden?«

«Das dürfte ich selbstverständlich, mit meinem Enkel reden.«

«Also ihr dürft völlig normal miteinander reden?«

«Zu bestimmten Zeiten.«

«Was heißt das?«

«Eine Stunde am Tag.«

«Und jetzt ist gerade diese Stunde?«

«Nein, ich habe eine Sondererlaubnis. Heute darf ich so viel reden, wie ich für richtig halte. Und morgen auch noch.«

David wandte sich an mich.»Das ist doch interessant, oder? Mehr als eine Stunde am Tag reden muß man eh nicht, findest du nicht?«Er hielt mir die Schachtel hin.»Möchtest du eine, Sebastian?«

«Vielleicht gehen wir besser hinunter in den Speisesaal«, antwortete ich, und mein Ton war so ungeduldig, daß sie mich beide erschrocken ansahen.»Vielleicht ist deine Mutter ja inzwischen gekommen und wartet«, versuchte ich zu relativieren.

David sprang vom Bett.»Ich geh und schau nach, ob sie schon angekommen ist. Ich kann mir vorstellen, daß ihr mich im Augenblick nicht brauchen könnt. «Und war zur Tür hinaus, Zigarette zwischen den Zähnen.