Langsam bis auf zehn gezählt und noch ein Stück weiter in die Zwanziger hinein, war es still zwischen uns.
«Laß uns gemeinsam an etwas Gemeinsames erinnern«, sagte sie schließlich, und ich wollte es nicht denken, aber ich dachte es doch: Das nun ist das süße Vokabular der Kerzenschlecker. Haben sie dich also vollständig umgedreht, erst umgedreht und am Ende gegen den Rest deiner Familie losgeschickt?
«Du zuerst«, sagte ich.
Immer noch hielt sie meine Hand fest. So souverän beherrschte sie den Raum, daß ich überall Symbole für unsere Situation entdeckte — die Kälte des Neonlichts, das Vorspielen von Bürgerlichkeit durch falsches Nußholz, die bilderlosen, leeren Wände …
«Als ich im Zug gesessen bin«, begann sie,»habe ich daran gedacht, wie wir beide fast ein Jahr lang allein gewesen waren, als Papa in Amerika war, als du deine Sporthefte geklebt hast, Läufer und Weitspringer, weißt du das noch? Vielleicht hast du die Hefte ja noch. Hast du sie noch? Du hebst doch alles auf. Alles, was du schreibst oder bastelst, hebst du auf, immer noch, habe ich recht? Eine Schnelläuferin gab es, eine Amerikanerin, ich weiß ihren Namen nicht mehr, alles Amerikanische hat uns interessiert, weil Papa ja in Amerika war, als Kind hatte sie eine schwere Krankheit gehabt, sie konnte nur mit Krücken gehen, glaube ich, irgendwo stand das, du hast gesagt, sie sieht mir ähnlich. Das war natürlich ein Blödsinn. Erstens war sie viel hübscher als ich, und sie war schwarz. Du hast das natürlich gewußt, daß sie mir keine Spur ähnlich sieht. Aber ich war eine Woche lang stolz. Und sie hat mir so leid getan. Obwohl sie soviel Erfolg gehabt hat. Sie hat mir so leid getan, ich kann es dir gar nicht sagen, wie. Jetzt läuft sie und läuft sie, aber laufen wie ein Kind kann sie nicht nachholen. Irgend etwas ist passiert, und wir haben uns nicht mehr vertragen. Aber ich weiß nicht, was es war. Weißt du, was es war? Es war sicher meine Schuld. Aber wenn du dich nicht daran erinnerst, war es sicher nichts von Bedeutung, und ich rede mir das nur ein, aber es hat mich gequält. Ich habe mir gedacht, du erinnerst dich daran. Nein, du erinnerst dich nicht daran, ich sehe es. Im Kloster ist jeder Tag genau gleich wie der andere, darum braucht man sich an nichts zu erinnern, es gibt nichts zu erzählen, und ich bin froh darüber, es bleibt alles so, wie es ist, und darüber bin ich froh, Zeit spielt keine Rolle, und man kommt aus der Übung, wenn man sich erinnern will, irgendwann kann man es gar nicht mehr, das Wichtige ist da, als wäre es nicht vergangen, man braucht sich nicht daran zu erinnern, nicht einmal daran denken muß man, es ist einfach da wie dein linker Fuß. Ich dachte, als ich im Zug saß, du wirst dich sicher an viel mehr erinnern als ich, und hoffentlich stellst du mich nicht auf die Probe und prüfst mich ab von früher. Ich habe so viel vergessen. Ich habe vergessen, wie die Straße geheißen hat, in der wir in Wien gewohnt haben, denk dir. Oder wie das Geschäft geheißen hat, wo wir immer telefoniert haben. Als wäre ich damals nie richtig wach gewesen. Jetzt geht es wieder. Aber eine Zeitlang habe ich viel vergessen. Auf einmal waren fünf Jahre vorbei. Aber sicher erinnerst du dich daran, wie wir am Abend in der Küche gesessen waren und Radio gehört haben, und ich habe die Kuverts für die Gewerkschaft beschriftet und frankiert, weil ich zu Herrn Dr. Korab gesagt habe, ich erledige es daheim, ich wollte ja ein paar Stunden am Abend mit dir zusammensein. Das habe ich besonders schön in Erinnerung, du auch?«
«Ja, ich auch.«
Die Haut unter ihren Augen hatte sich rosa gefärbt, sie blickte unter halbgesenkten Lidern auf meine Lippen; über ihrem Ohr tauchte ein Strang grauer Haare unter ihrer Kopfbedeckung hervor. Noch etwas war neu an ihr — eine sonderbare Bewegung der Augen, die sie manchmal wie im Schrecken aufschlug und schnell und gleichsam rundum schielend im Kreis herumrollte. Ich erinnerte mich, wie sie einmal zusammen mit meinem Vater gesungen hatte, ein Wienerlied, sie die untere Stimme, aber eine Oktave höher als seine Stimme. Sie hatte an seiner Schulter gelehnt, es war in unserer Küche in der Penzingerstraße gewesen an einem gewöhnlichen Nachmittag, beide hatten sich einen Hut aus der Kronenzeitung gefaltet und über den Kopf gestülpt, und meine Mutter hatte den Mund aufgerissen und die Augen geschlossen, und sie hatte sich von meinem Vater durch die weich durchhängende Melodie führen lassen.
I bin die höchste Quintessenz
Vom urwüchsigen Wean
Und singen is mei Leidenschaft
Das tu i gar so gern
Da kenn i kein Schenira
Und fahr tartarisch füra
Mein Wahlspruch ist und bleibt bei jedem
Liad und beim Couplet:
Nur aussa mit die tiafen Tön
Und aufikralln in d Höh!
Nur aussa mit die tiafen Tön
Und aufikralln in d Höh!
«Jetzt du«, sagte sie.
Aber ich kam nicht dazu, ihr von meinen Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit zu erzählen. Es klopfte an die Tür. — Dagmar und David waren da.
2
Ihr Haar war lockig und hennarot — damit hatte ich nicht gerechnet. Das erschwerte mir den Einstieg. So kam es, daß wir uns nur flüchtig begrüßten. Sie blickte an mir vorbei David nach, der zwischen uns hindurchgeschlüpft war. Sie trug weite Sachen im Schnitt chinesischer Bauersfrauen; auch darauf war ich nicht vorbereitet. Ich hatte zu Hause» Dagmar Lukasser «und auch» Dagmar Vorländer «in den Google eingegeben; drei Eintragungen, die eindeutig auf sie Bezug nahmen, hatte ich gefunden, sie hatten alle mit ihrer Arbeit in der Abteilung für Stadtentwicklung und Flächennutzung des Planungsamtes der Stadt Frankfurt und der vorgesehenen Verbauung des Rebstockparks durch den Architekten Peter Eisenman zu tun; aber kein Bild von ihr war im Netz aufgeschienen. Sie roch, wie sie vor zwanzig Jahren gerochen hatte, nach Veilchen. Das war einer der typischen Giftlerdüfte gewesen, im gleichen Laden zu kriegen, in dem es auch die Patschuliräucherstäbchen und die klingenden Kugeln gab.
Dagmar gab meiner Mutter die Hand, nannte sie Agnes —»liebe, liebe Agnes«. Die Ordenstracht schien sie nicht zu irritieren, kein Kommentar zu diesem Thema. Ich hörte, wie sich ihre Stimme mit der von Agnes und David zu einem fröhlichen Chörlein aus Sopran, Alt und Bariton verband; hier kannte jeder seinen Part und den Part des anderen. Die Tür stand noch offen — ich, einen Fuß im Zimmer meiner Mutter, den anderen draußen im Gang, überlegte, ob ich nicht einfach weglaufen sollte. Wie ich es nach Margaridas Beerdigung getan hatte. Hatte ich mich je näher bei mir selbst gefühlt als in Brooklyn in meinem Zimmer über Mr. Alberts Wohnung? Ich und meine Genossinnen und Genossen — William Blake, Emily Dickinson, William Carlos Williams und William Butler Yeats: I came upon a little town / That slumbered in the harvest moon, / And passed a-tiptoe up and down, / Murmuring, to a fitful tune, / How I have followed, night and day, / A tramping of tremendous feet, / And saw where this old tympan lay / Deserted on a doorway seat, / And bore it to the woods with me …
Ein Mann und eine Frau, beide weit oben in den Siebzigern, kamen den Korridor herunter. Sie winkten mir zu. Die Frau hielt mir im Vorübergehen die Hand hin, eine kleine, stämmige Person.»Wir sehen uns morgen oben in Lans«, sagte der Mann mit einem Akzent, den ich nicht zuordnen konnte. Sie sagte:»Vielleicht finden wir morgen ja Zeit für ein paar Worte, das würde mich sehr freuen. «Ich glaubte nicht, die beiden schon einmal gesehen zu haben.
David stand neben mir.»Ist was mit dir? Komm doch zu uns! He, komm doch zu uns! Mach die Tür zu und komm zu uns!«