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«Du hinkst ja«, rief Dagmar aus dem Zimmer.»Warum hinkst du denn?«

«Tatsächlich, du hinkst ja immer noch«, stimmte meine Mutter ein.

«Der Bocksfuß wächst mir heraus«, sagte ich.

In der Nacht klopfte ich an Dagmars Tür. Sie öffnete, und wir fielen einander in die Arme; sie hielt mit abgespreizten Ellbogen mein Gesicht zwischen ihren Händen, legte dabei ihren Kopf ein wenig schief, wie ich es so gut kannte, und küßte mich auf die Augen und auf die Nase und auf die Stirn und auf mein Kinn und auf meine Wangen und vermied, meinen Mund mit ihren Lippen zu berühren. Ich suchte ihre Ohren mit meinen Lippen, einmal hatte sie nämlich gesagt, wenn sie meine Zunge in ihrem Ohr spüre, sei sie erledigt, und ich wollte sehen, ob es noch so ist. Wir legten uns auf ihr Bett und drückten uns aneinander, aber die Kleider zogen wir nicht aus, und wir achteten darauf, daß wir nicht übereinander und untereinander zu liegen kamen, und das Licht löschten wir nicht.

«Wollen wir das in Zukunft weiter tun, nachts miteinander telefonieren?«

«Jede Nacht? Dann kannst du mich nach einer Woche zusammenkehren. Ich muß ja arbeiten.«

«Einmal in der Woche? Freitags?«

«Aber warum? David kommt mit mir mit. Es gibt keinen Grund mehr zu telefonieren. Er kommt doch mit mir mit?«

«Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich gehe davon aus.«

«Du hast es gut gemacht.«

«Danke.«

«Du hast gut auf ihn aufgepaßt.«

«Danke.«

«Was, denkst du, soll daraus werden? Du denkst doch, es soll etwas daraus werden. Also, was?«

«David wünscht sich, daß seine Eltern wieder zusammenkommen.«

«Das wünscht er sich nicht. Das hast du jetzt erfunden. In diesem Augenblick. Du willst wissen, wie ich reagiere, wenn du so etwas sagst. Aber vor allem willst du wissen, wie du selbst reagierst. Mach’ keinen Witz aus der Sache, bitte, Sebastian! Oder verschwinde in dein Zimmer. Er wäre wahrscheinlich empört, wenn er wüßte, daß wir miteinander im Bett liegen.«

Ich stand auf und ging ins Bad, zog die Tür hinter mir zu und ließ Wasser in die Wanne laufen. Ich schloß eine Wette mit mir ab: Wenn sie kommt, wird alles ohne mein Zutun gut, wenn sie nicht kommt, nicht; und definierte auch gleich, was» es wird alles gut «heißen sollte, nämlich: es wird mir alles in allem ein wenig besser gehen als bisher — so viel sollte verlangt werden dürfen. Ich zog mich aus, stieg ins Wasser, wusch mir die Haare mit Seife aus dem hoteleigenen Seifenspender, verteilte den Schaum über meine Haut, putzte mir mit Dagmars Zahnbürste die Zähne, rieb mich mit dem weißen Badetuch ab, trocknete die Haare mit dem Fön, dessen Schnur kurz genug war, um nicht bis an den Wannenrand zu reichen. Ich zog mich an und setzte mich auf den Toilettendeckel. Elvis Presley fiel mir ein; daß er auf der Toilette gestorben war; irgendwo hatte ich gelesen, sein Leben habe um ein paar Traummotive gekreist, die gleichsam die musikalische Substanz dieses Lebens gebildet hätten. Rettung könnte von Chuck Berry kommen. Wenn wir in der Küche miteinander geschlafen hatten, war ich hinterher hinübergegangen, hatte Norma vom Plattenspieler geräumt und Chuck Berry aufgelegt. Ich besaß eine Platte mit alten Chess-Aufnahmen, der unsentimentalste Blues, der mir je begegnet ist; völlig zu Recht war eine Jury der Menschheit übereingekommen, Chuck Berrys Musik ins Weltall zu schießen, um anderen Zivilisationen einen guten Eindruck von uns zu vermitteln; Bellini mußte zu Hause bleiben, auch Maria Callas und Ebe Stignani durften nicht mitfliegen. Wir hatten uns etwas übergezogen und waren durch die Wohnung getanzt, und Dagmar war hungrig geworden und hatte über der Abwasch Essiggurken und Kartoffelsalat gegessen. Wee Wee Hours, wenn ich mich recht erinnere, Willie Dixons I Just Want to Make Love to You und Blues for Hawaiians — also für uns beide. Unsere hawaiianische Küche in der Danneckerstraße, dreieckig und mit einer türkisgrünen Badewanne auf einem Podest. Wie lange hatten Dagmar und David dort noch gewohnt, nachdem ich ausgezogen war? Weihnachten gefeiert, Geburtstage gefeiert, Freunde eingeladen, Hausaufgaben gemacht, über mich geredet oder nicht über mich geredet.

Dagmar war eingeschlafen. Es sah jedenfalls so aus.

Als ich wieder in meinem Zimmer war, war es Viertel vor eins. Ich zappte durch die Fernsehprogramme. Punkt eins wählte ich ihre Handynummer. Sie nahm nicht ab. Ich rollte mich unter die Zudecke, löschte das Licht. Wartete. Wettete wieder mit mir. Ich zähle auf hundert. Bei vierunddreißig klingelte das Handy.

«Also gut«, sagte sie,»immer am Freitag nachts um eins. Versuchen können wir es ja.«

«Jetzt ist Freitag nachts um eins.«

«Heute gibt es nichts zu besprechen. Darf ich auflegen?«

«Laß mich auflegen.«

«Fühlst du dich sonst verlassen?«

«Ja.«

3

Frau Mungenast holte uns im Hotel ab. Wir verteilten uns auf zwei Taxis. Als wir in Lans über den Berg kamen, sahen wir schon von weitem die Autos, die an dem Weg durch das Maisfeld standen, Stoßstange an Stoßstange. Für uns seien Plätze ganz vorne beim Grab reserviert, sagte Frau Mungenast. Wir stiegen bei der Haltestelle der Lanserbahn aus und gingen an den Autos entlang zum Dorf. Ich hakte mich bei David unter. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und blickte zur Villa hinüber. Nun blieben wir alle stehen. Ich stellte Frau Mungenast den anderen vor, im Hotel war keine Zeit dazu gewesen. David sagte, sie kennten einander vom Telefon. Ihr Blick wich mir aus. Sie trug ein schwarzes Kostüm. Ihr Gesicht war voll Schminke. Zu meiner Mutter sagte sie, Carl habe viel von ihr erzählt, sie habe den größten Respekt vor ihrem Entschluß, der Welt den Rücken zu kehren.

«Was geschieht mit dem Haus?«fragte ich.

«Die es wissen müssen, die wissen es«, antwortete sie, und zwar in einem Ton, der so abkanzelnd war, daß ich mich in den Boden schämte, obwohl es keinen Grund dafür gab.

Meine Mutter schob sich flink zwischen David und mich und hängte sich bei uns beiden ein, warf den Kopf zurück und lachte in den Himmel, wie man es von Bildern mit glücklichen Nonnen kennt. Ich zog Dagmar zu mir herüber, nun bildeten wir vier eine Phalanx, und wir nahmen die gesamte Breite des Weges ein, es wäre kein Platz mehr an unserer Seite gewesen. Frau Mungenast drehte sich um und hackte voran. — Was bildete sie sich eigentlich ein! Daß ich, daß einer von uns auf ein Erbe spekulierte? Natürlich hatte ich mir meine Gedanken gemacht, aber andere Gedanken, als sie mir unterstellte. Ja, ich hielt es für wahrscheinlich, daß Carl zumindest David etwas hinterlassen würde; und eigentlich auch wahrscheinlich, daß er mich in seinem Testament bedacht hatte — wir waren schließlich seine Patenkinder. Und Dagmar würde er auch etwas geben, und wie ich ihn einschätzte, nicht weniger als David und mir. Meine Mutter war aus dem Schneider, ihren Anteil würde das Kloster kassieren. Und wenn wir vier alles bekämen? Die Villa, das große Haus am Rudolfsplatz. Ich weiß nicht, was Carl sonst noch besessen hatte, Aktien, Konten, Anteile an Geschäften und Kontoren, er hatte nie ein Wort darüber verloren. Carl war mit Sicherheit sehr reich gewesen, sehr reich. Wem sollte er sein Vermögen hinterlassen, wenn nicht seiner Familie? Was für eine Familie wir gewesen waren, würde Frau Mungenast nie begreifen! Ich hatte schon in Wien den Vorsatz gefaßt, ein Erbe abzulehnen. Ich wollte nichts. Als Grund dafür nannte ich vor mir selbst meinen Wunsch, der Schatten des Schutzengels möge nicht über seinen Tod hinaus auf mir liegen. So las sich meine innere Propagandaschrift. Und der wahre Grund für meinen Verzicht? Der Wunsch, ein Held zu sein? Ein Vorbild? Ein autonomer Anarchist? Einer, als wäre er aus einem Song von Woody Guthrie gestiegen? Ich hatte mir vorgenommen, gleich nach der Beerdigung vor meiner Mutter, vor David, vor Dagmar, auch vor Frau Mungenast, wenn sie zufällig anwesend wäre, meinen Standpunkt darzulegen, gar nicht erst abzuwarten, bis wir von einem Notar kontaktiert würden. Frau Mungenast hatte mir meinen Auftritt vermasselt. Andererseits: Wie kam ich eigentlich dazu, mich als heiliger Franz von Assisi aufzuspielen? In was für eine Lage würde ich damit David und Dagmar und meine Mutter bringen? Was sollten sie tun? Ebenfalls verzichten? Blieb ihnen etwas anderes übrig? Allein das Haus am Rudolfsplatz hatte einen Wert von mindestens hundert Millionen Schilling — ich hatte keine Ahnung von solchen Dingen, ich schätzte einfach. Die Villa drüben am Hang plus das Grundstück rundherum peilte ich auf dreißig Millionen. Margarida hatte von ihrem Vater ein Vermögen geerbt, das mußte dazugerechnet werden. Carl wird es gewinnbringend angelegt haben. Einmal hatten wir doch über Geld gesprochen. Ich hatte ihm erzählt, daß ich Ende der neunziger Jahre — zum Teil auf Kredit! — Aktien eines Technologiefonds gekauft hätte, dessen Kurs im Jahr zuvor um fast dreihundert Prozent gestiegen war; daß sich mein Einsatz im ersten Jahr tatsächlich verdoppelt habe, ich aber, trotz Anraten eines freundlichen Bankangestellten, die Aktien nicht verkaufen wollte und in den folgenden zwei Jahren achtundneunzig Prozent meines investierten Geldes vernichtet worden sei. Carl hatte gesagt, er habe mit Geld nie einen anderen Umgang als einen konservativen gepflegt. Nein, er wird sein Vermögen nicht verspekuliert haben. — War es schäbig, auf dem Weg zur Beerdigung über Geld nachzudenken? Es war schäbig. Wahrscheinlich. Sicher. Aber. Was, wenn es sich alles in allem um zweihundertfünfzig Millionen Schilling handelte? Oder mehr? Bestimmt sogar mehr. Wir werden uns wundern! Sagen wir zweihundertvierzig Millionen, weil es sich leichter durch vier dividieren läßt und weniger schwindlig macht. Weniger schwindlig? Fast sechzig Millionen Schilling für meine Mutter, ebenso viel für Dagmar, ebenso viel für David, ebenso viel für mich. Gibt es einen Menschen auf dieser Welt, gab es jemals einen, würde es jemals einen geben — Diogenes, den heiligen Franziskus, Mutter Teresa und Robespierre abgezogen —, der nicht darüber nachdächte? Ich hatte damit gerechnet, daß Carl während meines Besuchs selbst die Rede darauf bringen würde; ich hatte damit gerechnet, und ich hatte es zugleich befürchtet. Also gut, du willst nichts von mir haben. Und wenn es sich um fast siebzig Millionen Schilling handelt? Also was? Man nimmt, weint, ballt die Faust und schwört, man werde die Wohltat dem Wohltäter nie verzeihen? Ich hatte mir gewünscht, er würde mich fragen, welchen Gegenstand ich mir als Erinnerungsstück an ihn aussuchen wolle (nach dem Tod von Margarida hatte er meiner Mutter und mir genau diese Frage gestellt — ich hatte mir ihren Füllhalter ausgesucht, weil es so logisch war: derjenige, der ein Schriftsteller werden möchte, kriegt den Füllhalter); und ich war wieder mit mir in die Bredouille geraten, denn es gab nur einen Gegenstand, den ich wirklich gern gehabt hätte, nämlich die Gibson meines Vaters — ich wußte nicht, wie sie überhaupt zu Carl gekommen war, wahrscheinlich hatte sie meine Mutter ihm geschenkt; Bredouille deshalb, weil ich ihn damit vielleicht noch mehr gekränkt hätte als mit einer Zurückweisung seines Geldes … — Um es gleich vorwegzunehmen: Carl hatte kein Testament hinterlassen; es war ihm vollkommen egal gewesen, was nach seinem Tod mit seinem Besitz angestellt würde. Es nahm also alles seinen vom Gesetz vorgesehenen Verlauf. Er hat darauf gepfiffen! Und ich bin ihm dankbar dafür … obwohl es mich doch verblüfft hat …