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Gegen Ende des Krieges wurde meine Mutter als Straßenbahnschaffnerin in der Leopoldstadt dienstverpflichtet. Die Wohnung war ihr gekündigt worden. Der Besitzer vermietete sie an einen Parteimann. Den Großteil ihres Mobiliars hat er kassiert, der Gauner. Valerie, damals gerade zwanzig, war ebenfalls dienstverpflichtet, und zwar als Funkhelferin, und das ausgerechnet im Gaubefehlsstand am Gallitzinberg in Ottakring, wohin sich am Ende Baldur von Schirach verkriechen wollte, bevor er es sich anders überlegt hat und mit seinem Schwimmwagen davon ist. Beide, Valerie und meine Mutter, waren in Barackenlagern untergebracht, Valerie in Ottakring, meine Mutter in Wieden. Für Valerie war das weiter kein Problem. Für meine Mutter war es das Letzte. Sie mußte in einem Raum mit acht Stockbetten schlafen! Sie, die sich im Sommer Wachs in die Ohren stopfte, weil sie die Amseln am Morgen nicht aushielt! Wasser in einer Waschschüssel! Sie hätte ja ins Haus am Rudolfsplatz zurückkehren können, zu meinem Großvater und meiner Großmutter, aber das kam für sie nicht in Frage.

Am 10. September 1944, als die Bomben fielen, war sie gerade nicht im Dienst. Sie war in Ottakring beim Brunnenmarkt unterwegs, wahrscheinlich wollte sie Valerie besuchen, da hörte sie den Alarm. Aber dort war kein Luftschutzkeller in der Nähe, darum lief sie zum Clemens-Hofbauer-Platz, wo unter dem Park ein Bunker eingerichtet war. Sie erreichte den Bunker nicht, weil sie von einem Splitter getroffen wurde.«

4

Meine Stimme auf dem Band: Ich entschuldige mich, weil ich zur Toilette muß. Während ich draußen bin, läuft die Aufnahme weiter. Es ist nichts zu hören. Auch das Feuer im Kamin nicht. Gar nichts. Kein betontes Aus- oder Einatmen. Keine Bewegung von Carls Händen. Schließlich wieder meine tapsigen Schritte und wie ich mich auf dem Kanapee zurechtlege.

Ich war in Carls Badezimmer gewesen. Er hatte es umbauen lassen — den Türstock verbreitert, eine Schiebetür eingesetzt, so daß er bequem mit dem Rollstuhl hineinfahren konnte. Unter der Dusche war ein Klappsitz an die Wand geschraubt. Neben der Toilette waren Griffe, die man hinaufklappen konnte, überzogen mit weißem gepolstertem Kunststoff. Griffe auch bei der Badewanne. Auf einem Regal lag ein Paket mit Einlagen — Tena Lady Normal. Gehörten die Frau Mungenast? Die wird doch nicht ihre Einlagen in seinem Badezimmer deponieren. Oder hat er mit dem gleichen Problem zu kämpfen wie ich? Und das seit seiner Operation vor zwanzig Jahren? Daß die Inkontinenz also nicht zurückgeht? Oder daß er erst wieder in seinem hohen Alter darunter zu leiden begann? Eine normale Altersinkontinenz, die mit der Prostataoperation von vor zwanzig Jahren gar nichts zu tun hatte? Seniles Harnträufeln? Vor zwanzig Jahren waren die Operationsmethoden im Vergleich zu heute noch recht wuchtig. War ein nervschonender Eingriff damals überhaupt möglich gewesen? Als ich meinen Befund erhalten hatte, hatte ich mir eine Hitliste meiner Sorgen zurechtgelegt: 1. Das Leben. 2. Die Potenz. 3. Die Kontinenz. Nummer 3 beschäftigte mich im Augenblick am meisten. Auf dem kurzen Weg vom Wohnzimmer über den Gang ins Badezimmer hatte ich meine Einlage durchnäßt, sie hing schwer in meiner Unterhose. Im Sitzen und im Liegen konnte ich das Wasser halten, und in der Nacht brauchte ich gar keine Einlage. Aber wenn ich stand, noch schlimmer, wenn ich ging, da konnte ich die Beckenmuskeln zusammenziehen, so fest es mir nur möglich war, das Wasser rann trotzdem in einem Faden aus mir heraus. Ich preßte den Rest vom Harn ins Klo. Ein Strahl wie ein Neunjähriger, da sind wir Operierten im Vorteil. Ich wusch mich, warf meine nasse Einlage in den Abfalleimer und nahm mir eine von Carls, riß den Papierstreifen ab und klebte sie in meine Unterhose.

Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, saß Carl reglos in seinem Ohrensessel.

Fortsetzung von Carls Erzählung:

«Ich sagte so leichtfertig, der Brief bedeutete mir nur wenig. Das stimmt nicht. Ich habe ihn mir nämlich sehr oft angesehen, damals, unmittelbar nach dem Krieg, und das ist noch untertrieben: studiert habe ich ihn, analysiert habe ich ihn. Wie ein Detektiv, wie ein Archäologe habe ich ihn unters Vergrößerungsglas gelegt und ihn mir Quadratzentimeter für Quadratzentimeter vorgenommen. Valerie hatte die persönlichen Habseligkeiten unserer Mutter vor mir ausgebreitet und gesagt, ich solle mir aussuchen, was ich gern für mich hätte. Ich habe ein Kleidungsstück genommen, das mich besonders an sie erinnerte, eine moosgrüne Samtbluse mit Goldknöpfen, und den Brief. Valerie fragte, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie den Hoffmann-Sekretär nähme. ›Das ist eine sehr gute Idee‹, sagte ich.

Ich habe mich bei meiner Analyse nicht auf den Inhalt des Briefes, sondern zunächst nur auf die Schrift konzentriert. Was wollte ich? Etwas über meinen Vater herausbringen? Vielleicht. Und was? Es hätte mir gefallen, meinen Vater als interessanten Kerl zu entlarven. Ich wußte so gut wie gar nichts über Graphologie, zweifelte sogar, ob sich aus der Schrift eines Menschen überhaupt auf dessen Charakter schließen ließe. Aber angenommen, es läßt sich, so doch nur, wenn die Schrift genügend Individualität aufweist, genügend Abweichung von der Norm, was auch immer als solche bezeichnet wird. Und nun schau dir diese Schrift an! Mit freiem Auge betrachtet — mit unbewaffnetem Auge, wie es heißt —, gleicht sie einer Druckvorlage. Nicht der Norm nur ähnlich, sondern die Norm selbst ist sie. Du mußt dir nur ansehen, wie er die Zeilen hält. Er hat wahrscheinlich ein Zeilenpapier unter das Briefpapier gelegt. So viel Korrektheit ohne Hilfe wäre ja auch monströs. Oder schau dir die Abstände zwischen den Worten an. Immer gleich. Bis auf den Millimeter gleich. Wie bei einer Schreibmaschine. Oder die Schräglage. Immer im selben Winkel. Es gab Schreibunterlagen, die nur aus horizontalen Linien bestanden, und es gab solche, die kariert waren, und bei den Karierten gab es wieder welche mit lotrechten Linien und welche mit rechtsschräg geneigten Linien — ich nehme an, letztere hat er verwendet. Die Abstände der vertikalen Linien hat er als Maßstab für die Abstände der Wörter voneinander genommen. Jemand, der viel schreibt, braucht das alles nicht. Den stört auch nicht, wenn seine Schrift am Zeilenende nach oben oder nach unten läuft oder wenn die Abstände zwischen den Wörtern verschieden groß sind, und all das andere. War mein Vater ein Pedant? Anzunehmen. Zeilenvorlage, Vorlage für den Neigungswinkel der Schrift und Vorlage für Wortabstände — also bitte! Andererseits wollte er einen guten Eindruck bei seinem Schwiegervater hinterlassen. Wie erweckt man einen guten Eindruck bei jemandem, der einen nicht kennt und den man selbst auch nicht kennt? Mein Vater war im Geist von Vorfahren erzogen worden, die der Kaiser für ihre Subalternität geadelt hatte. Das heißt für ihre Pedanterie. Kann es aber nicht sein, daß er den Pedanten lediglich gespielt hat? Sogar etwas übertrieben gespielt hat? Ja, übertrieben, finde ich, arg übertrieben sogar. Vielleicht deswegen so arg übertrieben, weil er eine Schwäche kaschieren wollte? Nämlich daß er in Wahrheit das genaue Gegenteil eines Pedanten war? Was aber ist das Gegenteil von Pedanterie? Was, glaubte mein Vater, hielt mein Großvater für das Gegenteil von Pedanterie? Liederlichkeit. Er wollte unter gar keinen Umständen für liederlich gehalten werden. Weil er liederlich war?