In diesem Interview erzählte mein Vater sonderbare Dinge; das heißt, was er erzählte, war weniger sonderbar als die Art, wie er es erzählte: sprunghaft, in derben Worten, ressentimentgeladen, fanatisch; Großes wie Krieg und Frieden kommentierte er mit dünnen dümmlichen Phrasen, auf unwichtige Dinge dagegen ging er akribisch ein, so zum Beispiel, wenn er beschrieb, wie sich der alte, hochverehrte, weißmähnige, weißbärtige, griesgrämige Contragitarristenkönig Anton Strohmayer vor seinen Auftritten die Fingernägel gefeilt habe. Carl notierte den Sermon, sorgte bei der Reinschrift dafür, daß die Sätze halbwegs den grammatikalischen Regeln folgten, beließ aber, ja, verstärkte sogar, wie er später zugab, die skurrilen Eigenheiten und übersetzte schließlich alles ins Englische. Es war die Zeit, als der Swing in Amerika klassisch wurde und der Bebop zu einer explosiven Blüte ansetzte; wer selbst nicht mitspielen konnte, schrieb darüber, aus jedem Rülpser eines Ben Webster, eines Charlie Parker, eines Max Roach oder eines Dizzy Gillespie wurde eine Philosophie gezopft, die verminderte Quint wurde als akustische Ikone jenes Lebensgefühls gefeiert, das die Franzosen wenig später Existentialismus nannten, und alle waren auf der Suche nach originalen — eben sprunghaften, derben, ressentimentgeladenen, fanatischen — Genies, die nicht zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden wollten und, wenn möglich, Autodidakten waren. Im Bebop herrschte das Tenorsaxophon, aber das Tenor bot den federführenden Feinspitzen inzwischen nur noch wenig Überraschung, die Gitarre schob sich ins Zentrum ihres Interesses — Charlie Christian wurde wiederentdeckt, Django Reinhardt war in New York wie ein Gott gefeiert worden. Für die Amerikaner war Österreich, falls sie überhaupt etwas über dieses Land wußten, ein dumpf-bäuerlicher Hinterwald, aus dem Adolf Hitler gekrochen war, um Europa anzuzünden, und wenn von dort Nachricht über einen Jazzer eintraf, war das mehr als nur exotisch. In der amerikanischen» Fachwelt «löste das Interview großes Interesse aus. Art Hodges, selbst Pianist und nebenbei Mitherausgeber der Konkurrenzzeitschrift Jazz Record, schrieb im folgenden Heft von down beat einen Gastkommentar über europäischen Jazz, und in einem Absatz ging er auf meinen Vater, diesen» neuen Stern mit dem komischen Instrument«, ein und forderte Aufnahmen. Der Mann solle nach New York kommen, schrieb er; wenn es für Künstler wie ihn auf dieser Welt einen Platz gebe, sei der hier und nirgendwo sonst. Obendrein meldete sich auch noch das exklusive Jazz Label Blue Note beim» Manager «meines Vaters. Carl hatte in den dreißiger Jahren in New York das Entstehen einer unabhängigen Studio- und Vertriebsszene miterlebt, er war oft in Milton Gablers legendärem Commodore Music Shop in der 44. Straße gewesen, aus dem Blue Note Records hervorgegangen waren, und hatte dort sehr viel Geld für Schallplatten liegenlassen. Er riet meinem Vater dringend, die Einladung anzunehmen, selbstverständlich würde er für alle Kosten aufkommen, und wenn er es wünsche, werde er ihn begleiten. Mein Vater aber wehrte ab. Nicht, weil er sich von Carl nicht aushalten lassen wollte. Und sicher nicht, weil er sich vor der großen Stadt fürchtete. Er fühlte sich nicht reif genug für eine Schallplattenaufnahme. Es dauerte noch eine Weile, bis es soweit war; und dann spielte er nicht mehr auf der Contragitarre — nie mehr — natürlich» nie mehr«; lauwarme Zwischenzustände wie» manchmal «oder» selten «oder» ab und zu «oder» bisweilen «kannte mein Vater nicht; für ihn gab es nur: immer oder nie.
Mein Vater konnte mit seinen vierundzwanzig Jahren bereits auf eine lange Karriere als Musiker zurückblicken. Zum ersten Mal war er auf der Bühne eines Tanzlokals gestanden, da war er noch nicht zehn gewesen. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr war er regelmäßig gemeinsam mit meinem Großvater aufgetreten. Ich erinnere mich an ein Foto: mein Vater, versteckt hinter seiner Gitarre, neben ihm mein Großvater mit einem Schnurrbart à la Johann Strauß, auf seinen Sohn deutend wie ein Dompteur auf einen Affen. Mein Vater hatte sich eine eigene Technik erarbeitet, die es ihm ermöglichte, seine kleine Hand schnell zwischen den Gitarrensaiten und den Baßsaiten zu bewegen. Einer der Höhepunkte der Abende war, daß mein Großvater ein Stück begann, meistens einen Galopp, mein Vater einsetzte, mein Großvater ihn antrieb, schneller, schneller, und mein Vater die Geschwindigkeit der Schlaghand zu einem wahren Teufelstanz steigerte, bis einige Damen im Publikum» Aufhören! Aufhören!«riefen, weil sie fürchteten, das Kind könnte vor ihren Augen zusammenbrechen.
Mein Großvater starb an Lungenkrebs, der Krieg war gerade ein Jahr alt und sein Sohn achtzehn. Zum Militärdienst wurde mein Vater nicht eingezogen, nicht wegen Kleinheit und Magerkeit, sicher auch nicht, weil meine Großmutter ohne ihn vielleicht verhungert wäre — wen hätte das damals groß gekümmert? — , sondern, weil er an der Heimatfront gebraucht wurde, nämlich zur musikalischen Unterhaltung der Parteibonzen im feinen Hietzing. Den Nazis verdankten er und meine Großmutter, daß sie nicht delogiert wurden und auch in den letzten Kriegsmonaten ihre Sachen noch einigermaßen zusammenhalten konnten.
Schon während des Krieges war mein Vater mit dem Jazz in Berührung gekommen. Was er übrigens ebenfalls den Nazis verdankte. Konkret der Gestapo von Paris. Die hatte nämlich im Zuge einer Razzia die beliebte Band des Club Ventdour verhaftet — wegen Jazz! — und nach Wien zur Zwangsarbeit überstellt. Den österreichischen Nazis schien die Musik jedoch zu gefallen. Einer der Musiker, der Schlagzeuger Arthur Motta (nach dem Krieg spielte er eine kurze Zeit mit Django Reinhardt zusammen), wurde sogar für die Tanzkapelle des Reichssenders Wien verpflichtet. Die Musiker durften sich relativ frei in der Stadt bewegen, und so trafen sie bald mit Wiener Kollegen zusammen, mit Uzi Förster, dem Pianisten Roland Kovac — und eben auch mit meinen Vater. Einer der Franzosen, Marcel Etlens hieß er, er war Akkordeonist, Bassist und Gitarrist, befreundete sich mit ihm. Er zeigte ihm Tricks. Wobei sich mein Vater partout nichts auf der Gitarre beibringen lassen wollte; er habe, sagte er, den besten Gitarrelehrer gehabt, nämlich seinen Vater, und er habe bis an sein Lebensende genug zu tun, um alles, was der in seinen Kopf gepflanzt habe, in die Hände wachsen zu lassen. Was ihn interessierte, war, Effekte und Klänge, wie sie auf anderen Instrumenten hervorgebracht wurden, auf die Gitarre zu übertragen. Von Arthur Motta ließ er sich verschiedene Rhythmen zeigen, studierte genau die Technik, wie er die Trommeln und Becken schlug, wie er Synkopen knapp neben den erwarteten Stellen setzte und so die Dynamik steigerte.»Eine Fremdsprache lernen«, nannte er das. Gitarristen ist er sein Leben lang aus dem Weg gegangen; aber von Louis Armstrongs Gesang schaute er sich das Vibrato ab, ebenso vom Gesang der Marilyn Monroe; wie man mit leisen Tönen umgeht, lernte er von Lester Youngs Saxophonspiel und — später — von den zarten Melodien aus Chet Bakers Trompete; von Coleman Hawkins, den er eine Zeitlang fanatisch verehrte, übernahm er die Eigenart, sich einen Ton in einem hüpfenden di-dam zu holen und zwischen zwei Phrasen über die chromatische Tonleiter hinunter zu tanzen wie Fred Astaire über eine Treppe in die Arme von Ginger Rogers, nur etwa viermal so schnell. Hawkins Tenorsax inspirierte ihn außerdem zu Soli auf den Bässen der Contragitarre, wobei er, um nicht nur eine nach der anderen frei zu zupfen, mit der Hülle eines Lippenstifts über die Saiten fuhr, eine Technik, von der ihm ein schwarzer amerikanischer Soldat erzählt hatte, daß sie die Bluesgitarristen im Mississippidelta gern anwendeten (was auf der Contra allerdings erst einen Effekt erzielte, wenn er das Instrument nahe am Mikrophon spielte). So hat er es immer gehalten; wenn ihn einer über Musik hätte reden hören, und er hätte ihn nicht näher gekannt, er wäre wohl zur Ansicht gekommen, mein Vater interessiere sich für alles, nur nicht für die Gitarre. Ich erinnere mich an seine Thelonius-Monk-Phase; ich lernte gerade das kleine Einmaleins, als er, stöhnend, grunzend, fluchend und hysterisch schreiend, in unserer Küche in der Penzingerstraße saß und sich ärgerte, weil ihm die Töne zu unverletzt kamen, er aber auf der Gitarre spielen wollte (längst nicht mehr auf seiner alten Contra, sondern auf der wunderschönen, waldhonigfarbenen Gibson, die ihm Carl, wie er sagte» mit einem lachenden und einem weinenden Ohr «geschenkt hatte), daß es klänge wie Monk auf dem Klavier, nämlich so, als wäre er, wenn er einen Ton anschlug, noch von dem vorangegangenen so überrascht, daß er auf den folgenden nicht achten könnte und seine Finger nur eine Aufgabe hätten, nämlich zu korrigieren, immer wieder zu korrigieren, von Ton zu Ton, weswegen sich jedes Stück am Ende anhörte, als hätte es sich selbst geschrieben, und zwar zu keinem größeren als des Musikers Erstaunen.»Nie klingt ein Ton schöner, als wenn er zum erstenmal erklingt«, sagte er.»Es müßte einen Anfänger geben, der gut spielen kann. «In gewisser Weise war er ein solcher. Und genau das war es, was die» Fachwelt «begeisterte. — Und genau darauf hatte Carl im Vorwort zu seinem Interview — dem ersten und letzten in seinem Leben — besonderen Wert gelegt.