Bis zum Herbst 1948 war Georg Lukasser mit seiner Contragitarre das unangefochtene Genie der Wiener Jazzszene. Dann kam Attila Zoller aus Ungarn. Vielleicht hatte sich das Publikum an dem eigenwilligen Sound meines Vaters ja schon satt gehört; die große Neugierde jedenfalls galt nun Attila. (Ich darf ihn so nennen, schließlich hat er mir feierlich das Du angeboten; ich war sechs, und er tat, als wäre ich ein Kollege. Viele Jahre hatte es gedauert, bis sich die beiden versöhnten und Freunde wurden, was zu hundert Prozent auf Attilas Konto ging; zusammen gespielt haben sie freilich nie, privat nicht und öffentlich schon gar nicht. Nachdem sich mein Vater im April 1976 das Leben genommen hatte, schrieb Attila einen mitfühlenden Brief an meine Mutter und mich. Während meiner Zeit in Amerika besuchte ich ihn in seinem Haus in Townshend, Vermont, und ich traf dort einen der liebenswürdigsten Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Vor einem halben Jahr kaufte ich eine CD von ihm — Attila Zoller. Solo Guitar. Lasting Love —, sie ist 1997 aufgenommen worden, also ein Jahr vor seinem Tod. Die dritte Nummer trägt den Titel Struwwelpeter. Mein Herz hat sich zusammengekrampft —»Struwwelpeter «war der Spitzname meines Vaters, Attila hat ihn aufgebracht. Ich hätte gern Carl angerufen und ihm das Stück am Telefon vorgespielt. Er hätte gesagt: Es ist eine ironische Verbeugung vor der rhetorischen Gitarrenkunst von Georg Lukasser; und ich hätte hinzugefügt: der genau so, wie wenn er mit dem Mund redete, auch auf der Gitarre vom Hundertsten ins Tausendste kam; aber Carl hätte das letzte Wort gehabt: nur mit dem Unterschied, hätte er gesagt, daß er auf der Gitarre immer wieder zum Ausgangspunkt zurückfand.) Der Besitzer des Embassy-Club empfahl meinem Vater, sich ein halbes Jahr lang rar zu machen.»Was hält dich hier?«sagte er.»Fahr in die Staaten, dort ist Platz für viele gute Gitarristen. «Hätte er ihm ein halbes Jahr vorher diesen Vorschlag unterbreitet, wer weiß, womöglich hätte sich mein Vater über Carl ein Visum verschafft und wäre abgedampft. Jetzt ging das nicht mehr. Jetzt wäre das einer Kapitulation gleichgekommen. Was tat er? Er versteckte sich. Weinte aus steinernem Gesicht. Saß in Unterhosen und Unterhemd bei seiner Mutter am Küchentisch und war grob zu ihr. Aß nichts. Aber trank. Ich glaube nicht, daß er damals mit dem Trinken begonnen hat; er hat vorher sicher auch schon getrunken; aber nun nahm das Trinken einen anderen Charakter an.
Er hielt es bald nicht mehr aus, zu Hause zu sitzen und sich auszudenken, wie sein Konkurrent vom Publikum auf Händen getragen wurde. Er schlich sich in den Club, blieb hinten bei den Toiletten stehen und schaute sich an, wie dieser Ungar mit dem breiten Lausbubengesicht auf der Bühne saß und dabei lässigen Umgang mit einer elektrischen Gitarre pflegte, einer amerikanischen, deren Korpus eingeschnitten war, so daß man bequem auf den obersten Lagen spielen konnte. Attila war gerade einundzwanzig geworden. Er wollte Geld verdienen. So ein Abend im Embassy-Club war für ihn ein Job und hatte mit Kunst wenig zu tun. Der Besitzer hatte zu Attila gesagt, man wünsche sich nach der doch eher schweren Kost der vorangegangenen Monate etwas Leichtes, und weil Attila so gut wie alles spielen konnte, spielte er eben etwas Leichtes, konventionellen Swing. Daß ausgerechnet dieser immer etwas wie benebelt grinsende Mann Jahre später zum Wegbereiter des Free Jazz werden sollte, das konnte damals im Embassy keiner ahnen. Aber es war nicht etwa die unambitionierte Simplizität dessen, was hier geboten wurde, die meinen Vater beunruhigte. Im Gegenteil. Sein musikalisches Ideal war nämlich durchaus schlicht. Die Musik, die er in jedem wachen Augenblick und wohl auch träumend in seinem Kopf hörte, war volkstümlich fröhlich, einfach und melodiös (die Beatles — viel später — kamen diesem Ideal sehr nahe, und längst bevor die» Fachwelt «zur großen Verbeugung ausholte, brüllte er in seine Welt hinaus, die vier Liverpooler seien so groß wie Mozart). Das Ziel war das Reine, Leichte, Einfältige; die bekannten musikalischen Wege aber, die dorthin führten, fand er ausgetreten, touristisch verwahrlost, vom Radio verkitscht, von purer Fingerfertigkeit zugeschmiert, verdreckt, dem Ideal unwürdig und schädlich. Seine Versuche, neue Breschen durch den Dschungel der Töne zu schlagen, ließ er vor sich selbst jedoch nicht als eine neue Musik gelten, und er verachtete die, die solches vorgaben. Das war alles erst Vorbereitung. Es war wie Üben. Es geht ja auch niemand her und behauptet, er habe komponiert, wenn er lediglich die Tonleiter hinauf und hinunter gespielt hat. Django Reinhardt hatte das Ziel erreicht. Der Zigeuner war seinen Weg gegangen, und es war ein neuer Weg gewesen. Der Zigeuner wußte wie er: der Dschungel mußte neu gerodet werden, damit Ihre Majestät, das Schöne Lied, auf unzertretenem, frisch duftendem Boden Einzug halten konnte. Als mein Vater Attila sah — fünf Jahre jünger als er! — , Zigarette im Mundwinkel, mit offenem Hemd ohne Sakko, wie er mit lockerer Hand und entspannter Miene zu Baß, Klavier und Schlagzeug die alten Standards trällerte, da dachte er: Der ist ebenfalls am Ziel! Und er dachte: Ich werde das Ziel nie erreichen! Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit griffen nach ihm, und eine surreale Angst vor den Männerrücken und Männerhüten, auf die er blickte, stieg in ihm auf, als würden die sich gleich zu einem gesichtslosen Tribunal formieren und ihn, Georg Lukasser, der Hochstapelei anklagen, des Diebstahls: Du hast dir unter Vorspiegelung von Talent unsere Gunst geklaut! — Und als er so in der Ecke der Bar neben der Tür zu den Toiletten lehnte und die Fingernägel seiner Griffhand abkaute, sah er Carl im Publikum sitzen. Der war ja nicht zu übersehen, überragte alle, sein Haarschopf leuchtete wie Stroh in der Sonne. Da brach er zusammen. Ließ sich voll laufen. Soff sich nieder. Kam eine Woche nicht mehr aus seinem Rausch heraus.