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Carl suchte ihn. Er wußte ja nicht, wo er wohnte. Niemand im Club wußte es. Er wandte sich an die amerikanische Besatzungsbehörde, die konnte ihm schließlich die Adresse nennen: 17. Bezirk, Hernals, Zeilergasse 7/ 3/ 17.

Carclass="underline" »Ich mußte deinem Vater versprechen, und ich habe ihm versprochen, erstens: daß ich mir nie wieder ein Konzert mit Attila Zoller ansehen werde; zweitens: daß ich, sollte Attila Zoller je eine Schallplatte aufnehmen, mir diese nicht kaufen werde; drittens: daß ich mit Attila Zoller nie ein persönliches Wort sprechen werde; viertens: daß ich Attila Zoller in Gegenwart anderer nie loben werde. Das habe ich deinem Vater versprochen. Und zwar in der Kirche von Mariazell.«

Stilgerecht in einem Wallfahrtsort erfolgte die Inauguration des Schutzengels. — Meine Mutter war es, die Carl so genannt hat. Natürlich spöttisch. Mein Vater hat ihr deswegen einmal seine Faust böse gegen die Schulter gerammt. Aber sie hat ja gar nicht über Carl gespottet, wie er meinte, sondern über uns, die Lukassers. Wenn sie zu meinem Vater sagte:»Unser Schutzengel hat für dich angerufen«, klang das aus ihrem Mund wie: Ich habe ihn mir nicht ausgesucht, und du hast ihn dir auch nicht ausgesucht, er hat sich uns ausgesucht, und wir finden nicht mehr heraus.

4

Die Wahrheit ist: Sie hat ihn sich ausgesucht.

Meine Mutter arbeitete als Serviermädchen im Café vom Hotel Imperial. Eines Tages trat sie an Carls Tisch und sagte:»Herr Professor, ich muß Sie etwas fragen. Wollen Sie mir helfen?«Und sie meinte damit nichts anderes als: Er sollte den Freiwerber spielen, den Gelegenheitsmacher, den Kuppler. Mein Vater und Carl trafen sich zu dieser Zeit sehr häufig, und zwei-, dreimal in der Woche trafen sie sich zum Frühstück im Café vom Imperial. In dem Haus am Rudolfsplatz standen nach dem Abzug der amerikanischen Offiziere zwei Stockwerke leer. Carl hatte meinem Vater einen Raum im Erdgeschoß zum Probieren überlassen. Mein Vater spielte inzwischen auf der Gibson an einem kleinen Verstärker, zusammen mit einem Schlagzeuger, einem Bassisten und einem Vibraphonisten, der auch einigermaßen das Klavier und das Akkordeon bedienen konnte. Sie probierten Neues aus, alles unter dem Diktat von Georg Lukasser, versteht sich. In dem Gemeindebau, in dem mein Vater und meine Großmutter wohnten, hätte er nicht so laut spielen dürfen und auch nicht bis spät in die Nacht hinein. Am Rudolfsplatz störte das niemanden. Er besaß einen Schlüssel zum Haus, konnte kommen und gehen, wann er wollte. Carl sagte:»Sie bieten mir den Genuß Ihrer Kunst, es ist nur recht und billig, wenn ich Sie dafür ab und zu zum Frühstück einlade. «Meistens war Carl vor meinem Vater im Imperial, er las die Zeitungen, und so gut wie immer verspätete sich mein Vater — nicht eine Viertelstunde, nicht eine halbe Stunde —; es ärgerte Carl, in welchem Maß er es sich gestattete, auf ihn zu warten.

Als junge Frau sah meine Mutter nicht so gut aus wie später; wir besitzen nicht viele Fotos aus dieser Zeit, aber alle zeigen sie hohläugig und blaß. Carl erzählte, sie sei beinahe geborsten vor nervöser Unruhe, habe niemandem in die Augen sehen können, habe keine zwei Minuten ruhig sitzen können, habe die Angewohnheit gehabt, sich an den Handrücken zu kratzen, sei bis zur Unhöflichkeit sparsam mit Worten gewesen und habe immer gehüstelt. Die Haare hatte sie in einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, das wurde von der Hotelleitung verlangt. In der Nervosität bekam ihre Stimme eine strenge, vorwurfsvolle Höhe.»Ich muß Sie etwas fragen!«Das klang wie: Jetzt reicht’s aber!

Er solle sie mit diesem jungen Mann an seiner Seite bekannt machen, sagte sie. Du lieber Himmel, habe er sich gedacht, was für eine Formulierung!

«Was wollen Sie von ihm?«fragte er. Ihm kam gar nicht in den Sinn, daß sie an Georg als Mann interessiert sein könnte. Sie trug ihr Begehr in so sachlicher Form vor, daß er nichts anderes als irgendein Geschäft vermutete — ohne allerdings auch nur einen Tau zu haben, um was für ein Geschäft es sich handeln könnte. Sie war gekleidet mit der niedlichen Uniform der weiblichen Angestellten des Imperial — weiße Kniestrümpfe in schwarzen Schnürstiefelchen, einen dunkelblauen wadenlangen Rock, weiße Schürze mit Rüschen, weiße Handschuhe und ein weißes Häubchen, das sie als eine Beleidigung empfinde — wie sie in einem plötzlichen Umschwung in ihrem Tonfall zu einem beinahe intimen Fauchen von sich gab, voller Ärger; so daß Carl nun vermutete, ihre Nervosität rühre allein daher, daß sie sich permanent unter Gewalt halte, um nicht zu explodieren. Sie war erst zwanzig und sehr ernst und nicht eine Spur verlegen.

«Ich habe mich nämlich verliebt in ihn«, fuhr sie fort, als wäre die vor einer Minute, die mit dem Zorn auf ihren Arbeitgeber, eine andere gewesen,»und ich möchte, daß er mein Freund wird. Wie heißt er?«

Das habe ihm gefallen. Zuerst die Sache, dann die Person. Das hatte seine Logik. Die Person wird von der Sache geprägt. Bevor sie von der Liebe sprach, hatte sie sich die Handschuhe abgezogen, und als gesagt war, was sie hatte sagen wollen, zog sie sie wieder an. Meine zukünftige Mutter habe mit bewundernswertem Instinkt erkannt, daß mein zukünftiger Vater jemanden nötig hatte, der ihn führte.

Diese Geschichte gehörte zum goldenen Sagenschatz unserer Familie. Immer wieder, wenn wir alle zusammen waren — Carl, Margarida, meine Mutter, mein Vater, ich — Weihnachten zum Beispiel — bis zum meinem vierzehnten Lebensjahr feierten wir jede Weihnachten gemeinsam, entweder in der Penzingerstraße oder am Rudolfsplatz, öfter am Rudolfsplatz, weil es dort geräumiger war —, immer wieder erzählte Carl von seiner, wie er versicherte, einzigen Kuppelei seines Lebens.»Ich kann die Gefühle dieses äußerst komplizierten jungen Mannes nicht beeinflussen«, habe er meiner Mutter geantwortet — was, zu jeder anderen Person gesagt, eine Platitüde gewesen wäre, nicht aber vor ihr, denn genau das erwartete sie sich ja von ihm: daß er diesen komplizierten Mann auf sie ausrichte wie einen kleinen Marschsoldaten aus Blech —,»aber ich will gern ein Zusammentreffen mit ihm arrangieren«.

«Danke«, sagte sie.

«Bitte«, sagte er.

Kein Lächeln. Aber ein Händedruck. Ein Handschlag. Eine Art Vertrag. Ein Vorvertrag vor dem Ehevertrag. Nein, so etwas habe er noch nicht erlebt!

Zehn Minuten später kam sie noch einmal an seinen Tisch, und sie besprachen die Modalitäten, Carl inzwischen ebenso sachlich wie sie. Ort: Der Strohkoffer im Keller der Loosbar, Kärntner Durchgang 10. Zeit: Abends nach 22 Uhr. Carl sagte, er werde dafür sorgen, daß an dem Tisch rechts vor der Bühne ein Sessel für sie reserviert sei. Was für eine Garderobe vorgeschrieben sei, fragte sie. Keine, sagte er.»Danke«, sagte sie.»Keine Ursache«, sagte er. Und noch einmal Handschlag.

Am Abend war meine Mutter im Strohkoffer, und nach dem ersten Auftritt meines Vaters tat Carl so, als bemerkte er sie im Publikum, rechts bei der Bühne.

Er sagte:»Georg, sehen Sie dort hinüber, wissen Sie, wer die Frau ist?«

«Sie kommt mir irgendwie bekannt vor«, brummte mein Vater,»aber ich weiß es nicht.«

«Gefällt sie Ihnen?«

Und mein Vater:»Gefällt sie Ihnen?«

Es verschaffte Carl einige Genugtuung, daß er die Abfolge dieses kleinen Dialogs bis in den Tonfall hinein vorausberechnet hatte. Was kein Kunststück war. Mein Vater fragte ihn bei ziemlich allem, was nicht mit Musik zu tun hatte, erst um seine Meinung, bevor er seine eigene abgab.

«O ja!«sagte Carl,»sie gefällt mir, sie gefällt mir sogar außerordentlich!«

Er winkte meiner Mutter zu — wie sie es beide besprochen hatten —, sie kam an ihren Tisch — wie sie es beide besprochen hatten —, und Carl schlich sich nach einer Weile davon. Alles, wie sie es besprochen hatten. Er hatte zuerst vorgeschlagen, daß er zusammen mit meinem Vater zu ihr an den Tisch komme, das hatte sie abgelehnt — zu unsicher; könnte ja sein, daß der komplizierte junge Mann das nicht wolle, und dann würde es kein gutes Bild abgeben, wenn sie zu ihnen käme. Sie hatte an alles gedacht. Sie hatte alles geplant.