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Am nächsten Tag frühstückte Carl wieder im Imperial. Er war neugierig. Als er das Café betrat, kam ihm meine Mutter eilig entgegen, weißes Häubchen auf dem Haar, weißes Schürzchen über dem dunkelblauen Rock, graue Halbmonde unter den Augen. Es regnete, und an seinem Trenchcoat und seinem Hut rann das Wasser herunter und auf das Parkett.»Ich bringe Ihren Mantel in die Garderobe, Herr Professor«, sagte sie laut, so daß es der Oberkellner hören konnte, und leise fügte sie hinzu:»Folgen Sie mir!«In der Garderobe, akustisch durch die Mäntel abgeschirmt, sagte sie, sie wünsche ihn zu sprechen, ob er am Abend um sechs im Café Museum auf sie warten wolle. Anschließend servierte sie ihm das Frühstück — ohne ein Wort, ohne einen Blick und, wie Carl meinte, in einer Art Gekränktheit, für die er aber nicht den geringsten Grund sah.

Sie war pünktlich auf den Schlag, blieb aber im Windfang vom Museum stehen und winkte ihn zu sich.

«Gehen wir spazieren«, sagte sie.

Es regnete immer noch, er hatte einen breiten Schirm, sie hängte sich bei ihm ein, und sie stapften durch den Stadtpark und gingen weiter zum Donaukanal und unten am Wasser entlang stromaufwärts. Sie trug Überschuhe aus Gummi, auf ihre rechte Schulter tropfte das Wasser vom Schirm, dafür war seine linke Schulter naß; es störte sie beide nicht. Sie berichtete. Sie sei bis zum Ende geblieben. Georg habe auf seiner Gitarre gespielt, und nachdem der Herr Professor gegangen war, habe er sich nur noch einmal zu ihr an den Tisch gesetzt, dabei aber so gut wie nichts geredet. Ob das bedeute, daß sie ihm auf die Nerven falle? Nein, sagte Carl, das bedeute es wahrscheinlich nicht.

Er bat sie, ihn nicht mit» Herr Professor «anzusprechen. Wie denn sonst, fragte sie. Er schlug das Du vor.

«Das kann ich nicht«, sagte sie. Der Herr Professor sei ja nicht einmal mit seinem Freund Georg per du.»Wenn wir vielleicht wieder einmal zu dritt beieinandersitzen«, sagte sie,»was soll in so einem Fall zwischen mir und Ihnen gelten? Das Du oder das Sie?«

Carl versprach ihr, bei der nächsten Gelegenheit auch Georg das Duwort anzubieten.

Sie erzählte weiter: Als sie schließlich der einzige Gast gewesen sei, habe Georg die Gitarre eingepackt, da war es halb vier, und sie habe ihn gefragt, ob er sie nach Hause in den fünften Bezirk bringe, und das habe er getan.

«Und weiter?«fragte Carl.

Ob es ein Fehler von ihr gewesen sei, ihn ohne Kuß ziehen zu lassen, wollte sie wissen.

«Wenn eine Liebe in ihm ist«, antwortete er, und es tat ihm wohl, wie in einem einheimischen Film zu sprechen,»dann gibt es keine Fehler.«

«Ist eine in ihm?«fragte sie.

Das könne gut sein, sagte er.

«Würden Sie es merken?«

«Ich denke, bei Ihnen merke ich es.«

«Und bei ihm?«

«Ich denke, bei ihm würde ich es ebenfalls merken.«

Sie sagte, Georg und sie hätten sich für heute abend wieder im Strohkoffer verabredet, sie habe das vorgeschlagen. Sie fragte, ob Carl etwas dagegen habe, wenn sie morgen um die gleiche Zeit wieder im Café Museum auf ihn warte, sie wolle seine Meinung über ihr zweites Treffen mit Georg wissen.»Ich möchte nichts falsch machen«, sagte sie.

Als sie sich am nächsten Tag trafen, sprach er sie mit dem Du an und sie ihn ebenso. Mit dem Sie hatte sie auch ihre Schüchternheit aufgegeben, die er ihr ohnehin nicht abgenommen hatte.

Sie sagte, und ihr Ton war durchaus harsch:»Krieg’ raus, was er von mir hält!«

«Spürst du das nicht selber?«

«Entweder ich spüre es nicht, oder er kann es nicht zeigen, oder ich bin ihm gleichgültig.«

Am folgenden Tag trafen sie sich wieder vor dem Museum, und wieder gingen sie den gleichen Weg. Sie erzählte von ihrer Arbeit und sehr ausführlich von einigen Stammgästen und vom Oberkellner und der Frau, die beim Frühstück die Omeletts brät, und daß Adolf Hitler kein Hotel der Welt mehr geschätzt habe als das Imperial.

«Wie geht es mit Georg voran?«fragte Carl.

«Gut«, sagte sie.»Darf ich dich um etwas bitten?«Er meinte, es könne sich nur um eine Art Intervention handeln, daß er bei dem spröden Gitarristen einige gute Worte für sie einlege. Aber das war es nicht.»Ich brauche ihn eine Zeitlang allein für mich«, sagte sie.»Ist es möglich, daß du ihn nicht siehst?«

«Wie lange?«

«Zwei Wochen.«

Auch an den folgenden Tagen trafen sie sich nach ihrer Arbeit. Er brachte ihr kleine Geschenke mit, Pralinen oder leckeres Eingemachtes. Manchmal dachte er, sie schlafe im Gehen ein. Ihre Stirn und ihre Lippen waren fahl, die Wangen standen noch enger unter den Augen als sonst, die Lider hingen tief.

«Du schläfst zu wenig«, sagte er.

Sie berührte mit ihrem Kopf seinen Oberarm.»Wenn du deine langen Beine etwas ruhiger bewegst«, sagte sie,»kann ich vielleicht im Gehen ein bißchen schlafen.«

Als zwei Wochen vorüber waren, fragte er sie:»Und?«

«Er liebt mich«, sagte sie.

«Hat er das gesagt?«

«Er hat es gesagt.«

«Von sich aus, oder hast du ihn danach gefragt?«

«Das geht dich nichts an«, sagte sie schroff. Er nahm sich vor, sie nie mehr nach Georg zu fragen. Eigentlich wollte er sie nach dieser patzigen Antwort überhaupt nicht mehr wiedersehen. In der Nacht stand er am Fenster seines Arbeitszimmers und redete halblaut auf die Bäume am Rudolfsplatz hinaus; daß er es nicht nötig habe, sich dermaßen abkanzeln zu lassen; daß er weder einen Georg Lukasser für das Glück benötige noch eine Agnes Soundso — er kannte nicht einmal ihren vollständigen Namen. Aber am nächsten Tag war er wieder im Museum, und sie holte ihn wieder nach ihrer Arbeit dort ab; und er erzählte ihr von Dingen, die sie sich nicht länger als eine halbe Minute merkte.

«Ich würde Georg auch gern wieder einmal sehen«, sagte er.»Fragt er nach mir? Weiß er, daß wir uns treffen?«

«Das weiß er nicht.«

«Und wann kann ich ihn wiedersehen?«

«Ich brauche noch zwei Wochen.«

«Wozu brauchst du noch zwei Wochen?«

Sie antwortete nicht.

Einmal schlich er sich in der Nacht in den Strohkoffer, blieb aber hinten an der Tür stehen. Durch die Rauchschwaden konnte er Agnes sehen, die vor dem Podest an einem Tischchen saß, zusammen mit einigen jungen Männern. Georg, vor dem Hintergrund seiner Combo, spielte und sang ins Mikrophon und rauchte dabei und wirkte gleichgültig und geistesabwesend — wie immer, wenn er auf einer Bühne war. Agnes bewegte sich ausgelassen zum Rhythmus, die Arme erhoben, ein wenig hysterisch. Waren die jungen Männer ihre Freunde? Offenkundig interessierte sie sich mehr für diese Imitate amerikanischer Soldaten in Zivil als für Georg und dessen Musik. Sie hatte sich geschminkt, die Lippen grell und steil, ihr Kleid hatte einen tiefen Ausschnitt, den Busen drückte ein spitzer Büstenhalter nach oben. Die Männer versuchten, sie an den Händen zu erwischen. Wenn es einem gelang, hielt er sie fest, leckte sich die Finger seiner anderen Hand ab und berührte damit ihre Fingerkuppen. Wie konnte sich jemand so ein lächerliches Spiel ausdenken! Oder hatte es etwas zu bedeuten? Drei Männer, eine Frau. War einer unter ihnen, den sie bevorzugte? Es war nicht festzustellen. Keiner von ihnen blickte zur Bühne. Warum waren sie überhaupt hierhergekommen? Nur wegen Agnes? Hatte sie diese Idioten mitgebracht? Fern von all dem spielte der Gitarrist, und Carl meinte, nie zuvor habe er besser gespielt. Keiner hier weiß, was dort vorne auf der Bühne eigentlich geschieht, dachte er, und er dachte es mit gallebitterem Stolz. Dennoch hielt sein Blick nicht bei Georg aus.