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Die Flüchtlinge

Es war kurz vor Tagesanbruch. Der Morgenstern leuchtete wie eine kleine goldene Flamme über dem immer heller werdenden östlichen Horizont.

Ein schwacher Morgenwind kräuselte die Oberfläche der Meerenge zwischen den beiden Inseln, die sich wie dunkle, unförmige Massen aus dem tropischen Meer erhoben.

Ceysén, die größere dieser Inseln, war ganz mit Wald bedeckt. An ihren Ufern wuchsen Mangrovenbüsche; an mehreren Stellen drangen sie bis in das seichte Wasser vor. Nach dem Innern der Insel hin waren die Bäume größer und dichter beieinander: Zaragocillabäume, rote Mangroven und Divi-divis kämpften mit den schlanken Palmen um den Lebensraum. Unweit der Mitte der Insel reckte ein mächtiger Ceibabaum seine kuppelförmige Krone in den Himmel.

Auf der kleineren Insel, die noch nicht einmal einen Namen hatte, gab es nur einige kleine knorrige Bäume, eine Anzahl Strandtraubenbüsche und weiße Mangroven. Sonst bestand der Boden aus feinstem Muschelsand, weiß und weich wie Kreidestaub, wo er nicht mit allzuviel Schneckenhäusern und Muschelschalen vermengt war. Rauhe graue Korallenfelsen ragten zwischen den Sandstellen empor.

Die ganze Insel war nur etwa zweihundert Schritt lang und vielleicht halb so breit, während die Oberfläche von Ceysén wenigstens zehnmal so groß war.

In den Büschen und Baumwipfeln hingen flache, kunstlos zusammengefügte Reisighaufen. Es waren Vogelnester, und in einigen davon saßen große schwarze Fregattvögel mit roten Kehlsäcken und brüteten. Es waren Männchen. Bei den Fregattvögeln wärmt das Männchen das Ei, während das Weibchen ausfliegt und Fische herbeischafft. Im Nordosten, etwa fünf Kilometer entfernt, lag eine zweite kleine Inselgruppe. Weiter ostwärts waren noch mehrere schwach zu erkennen. Sie schienen gleichsam aufs Geratewohl mitten ins Meer hineingestreut zu sein.

Wenn man jedoch an einem sehr klaren Tag auf einen der höchsten Bäume von Ceysén geklettert wäre, hätte man von dessen Wipfel aus eine diesige blaue Linie erkennen können, die wie ein Rauchschwaden über dem südlichen und südöstlichen Horizont lag.

Diese Linie war eine niedrige Bergkette des Festlands, der Nordküste von Südamerika, etwa in der Mitte zwischen der Darienbucht und der Mündung des Magdalenaflusses gelegen.

Diese Namen gab es jedoch noch nicht. Sie wurden der Bucht und dem Fluß von den weißen Männern gegeben, und es sollte noch ein halbes Menschenalter dauern, bis die ersten spanischen und portugiesischen Schiffe den Weg nach den Küsten des neuen Erdteils fanden. Noch ungestört und unbetreten lagen die Inseln in dem tropenblauen Meer, im Licht des anbrechenden Tages, das ständig zunahm. Seeschwalben, Baßtölpel und Fregattvögel waren ihre einzigen Bewohner.

Eine Anzahl dunkler Gegenstände trieb langsam vom Festland her auf die beiden Inseln zu.

Es waren Flöße aus langen, dicken Stämmen des leichten Balsaholzes. Die entrindeten Baumstämme waren mit Stricken aus starken Schlingpflanzen zusammengebunden und dazu mit Querriegeln und Klammern von knochenhartem Suribioholz aneinander befestigt.

An die vierzig Menschen befanden sich auf den sechs Balsaflößen. Es waren Indianer, Arowaken von einem der Bocaná-Stämme, die drüben an der Küste wohnten.

Fast alle waren wohlgestalte Menschen mit dunkelbrauner Haut, hohen und breiten Wangenknochen und glänzend blauschwarzem Haar, das ihnen in glatten Strähnen auf die Schultern fiel. Die Männer waren breitschultrig und kräftig gebaut, wenn auch nicht von besonders hohem Wuchs. Die Frauen dagegen waren untersetzter und hatten weichere, rundlichere Gesichter mit mandelförmigen Augen. Sie trugen eine Art langes Baumwollhemd ohne Ärmel, während die Männer nur kurze Hüfttücher aus festem Stoff umgebunden hatten. Alle trugen Halsketten von Porzellanschnecken, Tierzähnen, fein geschnitzten Knochenstücken oder hübschen Samenkörnern verschiedener wild wachsender Pflanzen.

Die Gruppe bestand aus elf erwachsenen Männern und vierzehn erwachsenen Frauen. Die übrigen waren Kinder und Jugendliche.

Die Erwachsenen und einige der größeren Kinder ruderten — oder richtiger: paddelten — mit kurzen, breitblättrigen Hölzern. Alle sahen müde und niedergeschlagen aus. Mehrere der kleinen Kinder weinten, aber meist lautlos, wie es die Art der Indianerkinder ist.

Die Flöße waren mit Hausrat beladen: mit Körben, Tonkrügen, Töpfen und Schalen verschiedener Größen und Formen. Auf den Stämmen der Flöße lagen fest angebunden Ballen von Stoffen und Baumrinde, Bündel von Fischspeeren und Harpunen und dazu eine Menge unbearbeitete Holz- und Knochenstücke, aus denen man Werkzeuge und Waffen schnitzen konnte, sobald man wieder Zeit zur Arbeit hatte. Am Heck des ersten Floßes saß ein stattlicher Indianer mit einem scharfen Raubvogelgesicht. Er hieß Sägefisch und war der Häuptling der Schar. Trotz seiner Würde hatte er jedoch nicht das entscheidende Wort zu sagen, vor allem, wenn es sich um wichtige und ernste Beschlüsse handelte.

Der Mann, der wirklich regierte und bestimmte, war sein Großvater väterlicherseits, der neben ihm sitzende Medizinmann.

Der alte Medizinmann hieß eigentlich „Stehender Bär", aber da man den wirklichen Namen eines Medizinmannes nicht unnötig auszusprechen pflegte, nannten ihn alle „Großvater Mummel". Die Kinder hatten damit den Anfang gemacht, und als die anderen sahen, daß er es nicht übelnahm, begannen sie sich auch dieses Kosenamens zu bedienen. Er war ein freundlicher Mann, wenn sicher auch viele meinten, er habe recht komische Ansichten.

Dicht neben diesen Männern auf dem großen Floß paddelten zwei junge Burschen, denen man das Haar noch nicht im Nacken abgeschnitten hatte — die also noch keine voll erwachsenen Männer des Stammes waren.

Der eine von ihnen war fast ebenso groß wie der Häuptling, obwohl er dessen kräftige Statur noch nicht hatte. Er war der Schnellste des Stammes, daher wurde er „Läufer" genannt. Sein kluges, aufgewecktes Gesicht war ungewöhnlich fein geschnitten.

Der andere war kleiner und untersetzter, er hatte ein breites Gesicht und schwere Schultern. Vor einigen Jahren hatte ihm jemand einmal einen Stein ins Gesicht geworfen. Seine Nase war nach dem Wurf noch lange Zeit dick und geschwollen, und so hatte man ihm den Namen „Stumpfnase" angehängt. Diesen Namen wurde er nicht wieder los, er mußte ihn behalten, bis er seinen richtigen Männernamen bekam.

Die Bocaná-Arowaken waren friedliche und freundliche Menschen. Solange sich jemand von ihnen entsinnen konnte, und darüber hinaus, hatten sie in ihren kleinen Dörfern an der Küste und an den Flußmündungen gewohnt. Alte Leute erzählten freilich auch, ihre Vorfahren hätten ihre Wohnstätten vor vielen Menschenaltern an den großen Schilfseen gehabt, die im Innern des Landes zwischen der weiten Meeresbucht und dem Sinú-Fluß lagen.

An den Lagunen war es ihnen gut gegangen, bis eine schwere Krankheit unter ihnen ausbrach und viele starben. Da hatte sich der Stamm geteilt, und viele waren an die Küste übergesiedelt, wo es genügend fruchtbaren Boden gab.

Sie bauten dort Mais, Maniokwurzeln und Bataten, Ananas und Baummelonen sowie viele andere Feldfrüchte an. Außerdem waren sie geschickte Weber und Töpfer.

Dazu fischten sie ausgiebig von ihren Balsaflößen und gingen in den Urwäldern auch ein wenig der Jagd nach; aber die Jagd war nicht ihr eigentlicher Erwerb. Das hing wohl damit zusammen, daß sie noch nicht daraufgekominen waren, wie man lange Bogen und Blasrohre anfertigte, wie sie von den anderen Indianern gebraucht wurden, sondern nur Lanzen, Wurfspeere und Harpunen mit Knochenspitzen oder solche aus hartem Holz benutzten.

Mit ihren Nachbarn an der Küste und im Innern des Landes lebten sie im allerbesten Einvernehmen. Oft machte ein Trupp von ihnen einen Besuch in irgendeinem Nachbardorf, und dann veranstalteten ihre Gastgeber Festessen, Tänze und Wettkämpfe im Laufen, Schwimmen und Speerwerfen.