„Ich sage, das Kanu ist gut", erwiderte der alte Medizinmann. „Ich sage, Läufer hat mit dieser Erfindung große Ehre gewonnen. Beim nächsten Neumond sollen ihm alle Erwachsenen ein großes Fest bereiten. Außerdem soll dieses erste Kanu ihm und keinem anderen gehören. Das nächste gehört dem Häuptling, wie es recht und billig ist, und das letzte und größte soll Eigentum des ganzen Stammes sein. Später müssen wir dann zusehen, daß wir noch mehr Kanus bauen. Der Tag wird sicher kommen, an dem jede Familie ihr eigenes Kanu haben wird. Dieses hier gehört jedoch einzig und allein Läufer, und ohne seine Erlaubnis darf keiner damit hinauspaddeln oder zum Fischfang fahren. Jungen wir er können mit der Zeit große Häuptlinge oder weise Medizinmänner werden."
Läufer hielt das Haupt gesenkt und hörte alle diese Worte. Er war so glücklich, daß es ihm fast Schmerzen bereitete.
Man denke nur — das erste Kanu des Stammes sollte ihm gehören! Er konnte damit zum Fischen fahren, wann immer es ihm gefiel, und er konnte es seinen Freunden borgen.
Der Medizinmann hatte ihn vor dem ganzen Stamme gelobt, und was das Schönste von allem war: Beim nächsten Vollmond würde sein Fest gefeiert werden. Das konnte nur bedeuten, daß er einen neuen Namen erhalten, für erwachsen erklärt und mit allen Rechten eines Mannes ausgestattet werden sollte.
Der Häuptling trat zu ihm und klopfte ihm freundlich auf die Schulter.
„Nun wissen wir, wie wir es machen müssen, wenn wir die anderen Kanus bauen", sagte er. „Nimm einen guten Kameraden mit und fahr hinaus zum Fischen. Du hast in letzter Zeit hart gearbeitet und wirst eine Abwechslung brauchen können."
Läufer winkte Stumpfnase, und beide begannen im flachen Wasser nach Krabben zu suchen. Als sie genügend gefunden hatten, fuhren sie hinaus ans Riff, um sich dort hinzusetzen und zu angeln.
Nach einigen Stunden befanden sie sich wieder auf der Rückfahrt, nun mit so viel Fischen versehen, daß sie dem ganzen Lager als Mahlzeit dienen konnten. Mit dem schnellen Kanu war es leicht, an die besten Angelstellen zu gelangen.
Als sie in die Meerenge hereingepaddelt kamen, hörten sie von der größeren Insel regelmäßige Schläge der Steinäxte herüberhallen. „Ja", sagte Stumpfnase, „nun bist du bald ein Mann und wirst nicht mehr Läufer genannt werden. Und dann wirst du wohl kaum noch mit einem Jungen wie mir hinausfahren und fischen."
„Jetzt redest du Unsinn", antwortete Läufer ein wenig verärgert. „Wir zwei bleiben immer gute Freunde, was auch geschieht. Gewiß wirst du auch bald etwas Nützliches tun, dann einen richtigen Männernamen erhalten und zum Ima tule erklärt werden — zum erwachsenen Mann."
„Das sagt sich leicht", erwiderte Stumpfnase. „Aber es wird nicht leicht werden, nachdem du zwei so große Dinge wie den Bogen und das Kanu erfunden hast. Jetzt genügt es sicher nicht mehr, wenn man mit irgendeiner Kleinigkeit kommt. Es muß nun schon etwas wirklich Nützliches sein, und so etwas kann ich mir sicher nicht ausdenken." „Natürlich kannst du das!" ermutigte ihn Läufer. „Was ich getan habe, war eigentlich gar nichts Besonderes. Ich hatte ja gesehen, wie die Bogen und die Kanus der Kariben ungefähr aussahen, als ich mit Sägefisch nach ihnen Ausschau hielt. Dann habe ich bloß nachgedacht, warum sie so sein mußten, und darauf brauchte ich nur noch etwas Ähnliches zu versuchen. Das war alles. Dir wird sicher auch mal ganz unvermutet ein guter Einfall kommen. Dann mußt du dich nur daran hängen wie ein Schildfisch an eine grüne Schildkröte, und ehe du dich versiehst, ist die Sache fertig."
Stumpfnase starrte seinen Kameraden einen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen an.
„Wie ein Schildfisch an eine grüne Schildkröte — hat mein großer Bruder das gesagt?" fragte er langsam und mit einer kleinen Pause nach jedem Wort.
„Ja, warum?" erwiderte Läufer verwundert.
Stumpfnase lachte herzhaft. Dann wurde er jedoch plötzlich wieder ernst und begann erneut aus Leibeskräften zu paddeln.
Läufer sah ihn erstaunt an.
„Worüber hast du gelacht?" fragte er.
„Ich mußte nur an etwas denken", erwiderte Stumpfnase ausweichend. „So ist das, wenn man mit klugen Leuten im Kanu ausfahren darf." Während des ganzen folgenden Abends war kein vernünftiges Wort aus ihm herauszukriegen, aber früh am nächsten Morgen bat er Läufer, ihm für kurze Zeit das Kanu zu leihen, er wolle einige Stachelrochen harpunieren.
Das durfte er natürlich, und einige Zeit später kam er zurück und gab Läufer einen stattlichen Rochenstachel, fast doppelt so lang wie ein Finger und spitzer als der spitzeste Feuerstein. So eine Pfeilspitze mußte man suchen.
„Ich danke dir für das Geschenk", sagte Läufer. „Sobald ich gutes Material habe, werde ich für meinen Bruder Stumpfnase einen Bogen machen."
„Das wäre ein großes Geschenk für ein kleines, aber es wissen ja alle, daß Läufer gern viel für wenig gibt", erwiderte Stumpfnase. „Darum sagen wohl auch so viele, er habe das Zeug zu einem Häuptling. Wollen wir morgen hinausfahren und fischen, ganz früh?"
„Ja, gern. Aber wohin fahren wir diesmal? Wieder hinaus an das große Korallenriff?"
„Nein, ich habe eine neue Angelstelle entdeckt, die bis jetzt noch keiner kennt. Sie liegt drüben an der anderen Seite von Ceysén."
„Gut, dann fahren wir dorthin."
Es war fast noch dunkel, als Stumpfnase vom Strand heraufgeschlichen kam und Läufer mit einem kleinen Zweig an der Fußsohle zu kitzeln begann.
Er vermied es, seinen Kameraden jäh aufzuwecken. Das war bei ihrem Volk nicht üblich. Die Indianer glaubten, wenn man schlafe, befinde sich die Seele auf Reisen, und man erwache, wenn sie zurückgekehrt sei.
Sie meinten, daß jeder Mensch zwei Seelen besaß, eine kleine und eine große. Die große Seele begab sich auf Reisen, wenn man schlief, und die Träume waren Abenteuer, die die Seele erlebte, wenn sie sich vom Körper getrennt hatte. Daher hielten die Indianer auch Träume für eine Art Wirklichkeit und machten keinen großen Unterschied zwischen der wachen Wirklichkeit und dem Traumgeschehen.
Wurde man zu jäh geweckt, dann konnte es geschehen, daß die kleine Seele die große nicht mehr rechtzeitig zurückrufen konnte; erwachte man, ehe die große Seele zurück war, dann vermochte diese nicht mehr in den Körper einzugehen und fuhr sonstwohin. Allein gefiel es dann der kleinen Seele nicht mehr im Körper, sie wollte ebenfalls hinausfliegen, um die große Seele zu suchen. Dann wurde man krank und starb, so glaubten die Indianer.
Daher weckten sie einen schlafenden Menschen immer sehr langsam und vorsichtig, damit seine kleine Seele genügend Zeit fand, die große zurückzurufen.
'Stumpfnase kitzelte also seinen Freund weiter mit dem Zweig an den Füßen, bis Läufer erwachte und sich aufrichtete. Er reckte die Arme und gähnte.
„Es ist Zeit, aufs Meer zu fahren!" sagte Stumpfnase.
„Es ist ja noch finster!"
„Siehst du nicht die Tochter der Sonne? Sie ist schon aufgestanden, um Maisbrot für ihren Vater zu backen. Es ist bald Morgen, wenn sie sich zeigt."
Stumpfnase wies nach der Venus, die in strahlender Klarheit über dem ersten bleichen Streifen Tageslicht im Osten stand.
Läufer ließ sich überzeugen und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Dann wird es wohl das beste sein, wenn wir gleich nach Ködern suchen", sagte er. „Aber so früh findet man wohl nur Sandmuscheln." „Mach dir keine Sorgen wegen der Köder", erwiderte Stumpfnase lächelnd. „Das habe ich schon gestern geregelt."
„Dann können wir ja losfahren."
Die beiden Freunde banden die Leine los, setzten Rollen von Balsa-holz unter das Kanu und zogen es hinunter ans Wasser. Dann ging Stumpfnase nach einem kleinen Gezeitentümpel zwischen den Korallenfelsen und nahm etwas aus ihm heraus.