Läufer konnte nicht sehen, was es war, Stumpfnase packte es in nasse Mangrovenzweige. Darauf tauchte er das ganze Bündel ins Meer und hielt es einige Minuten unter Wasser, um es dann ins Kanu zu legen.
„Na, und wo ist nun deine neue Angelstelle?" fragte Läufer.
„Da drüben, auf der anderen Seite der großen Insel. Hast du deine beste Harpune und eine feste Leine mitgenommen?”
„Natürlich."
„Dann können wir losfahren."
Die Sonne wollte gerade aufgehen, als das Kanu die äußerste Landzunge umrundete und zwischen den Sandbänken dahinglitt, die auf der anderen Seite von Ceysén lagen.
„Leg nun dein Paddel ins Kanu, wir wollen uns ein Weilchen treiben lassen", schlug Stumpfnase vor.
Läufer sah ins Wasser.
„Hier ist doch Sandboden?" sagte er.
„Gewiß ist hier Sandboden. Was ist denn dabei?"
„Besser beißen die Fische ja über Klippen und am allerbesten über Korallen."
Stumpfnase verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Nicht bei dieser Art", sagte er und sah ins Wasser. „Leg dich lang ins Kanu und mach die Augen auf. Siehst du, was da unten auf dem Meeresboden liegt?"
„Es sieht aus wie eine Schildkröte."
„Es ist auch eine Schildkröte, eine von den großen grünen. Halte deine Harpune bereit!"
„Bist du denn ganz närrisch geworden? Glaubst du, ich könnte sie vier Klafter tief harpunieren?"
„Halte die Harpune bereit, hab ich gesagt! Hier hab ich jemand, der es machen wird, daß die Schildkröte in Reichweite deiner Harpune kommt."
Stumpfnase steckte die Hand in das Bündel nasser Zweige und holte einen großen, schleimigen Schildfisch heraus, einen schwarzen Burschen von häßlichem Aussehen, der verzweifelt nach Luft — oder richtiger, nach Wasser schnappte. Der Indianerjunge band seine haltbarste Angelschnur um den Schwanz des Fisches, und zwar etwas vor der Schwanzflosse. Dann ließ er seinen Gefangenen vorsichtig ins Wasser.
Der lange, schmale Fisch sank langsam auf den Boden. Es sah aus, als wäre er tot oder doch wenigstens nicht ganz bei Kräften.
Plötzlich schlug er jedoch mit den Flossen, brachte sich wieder in die richtige Schwimmlage und begann langsam im Kreise zu schwimmen, mit jedem Kreis ein Stück tiefer hinunter.
Schließlich richtete er seinen Kurs geradeswegs auf die Schildkröte, als habe er im Wasser eine Spur gefunden.
Als er die Schildkröte erreicht hatte, begann er sich zwischen ihrem Bauchpanzer und dem Meeresgrund einzuwühlen, bis nur noch die Schwanzflosse hervorsah.
„Halte die Harpune bereit, denn sie wird gleich kommen!" flüsterte Stumpfnase.
Er wartete eine Minute, zwei, drei Minuten — noch länger. Es fiel ihm schwer, seinen Eifer zu zügeln, aber der Schildfisch mußte ja Zeit haben, um sich richtig festzusaugen.
Als der Indianerjunge mit Sicherheit wußte, daß der Fisch wie angeleimt am Panzer der Schildkröte saß, begann er an der Angelschnur zu ziehen, ruhig und gleichmäßig, ohne zu reißen.
Verblüfft sah Läufer, wie die große Schildkröte langsam vom Meeresgrund gehoben und durch das Wasser gezogen wurde, erst mit der einen Seite nach oben, dann auf dem Rücken liegend. Sie schien nicht die geringste Gefahr zu ahnen, sondern schwenkte nur träge ihre breiten Schwimmbeine, um wieder mit dem Rücken nach oben zu kommen. Währenddessen zog Stumpfnase sie herauf und immer näher an das Kanu heran.
Läufer kniete, die Harpune wurfbereit in der Hand. Genau im richtigen Augenblick jagte er seine Waffe ins Wasser. Die Knochenspitze mit den langen, scharfen Widerhaken traf die Schildkröte in den Hals, genau vor der Kante des Rückenpanzers.
Läufer griff nach der Harpunenleine und begann sie aus Leibeskräften zu ziehen.
Anfangs stemmte sich die große Schildkröte mit aller Kraft dagegen. Sie zog das Kanu hinter sich her, und hätte Läufer die Harpunenleine nicht vorn am Kanu angebunden gehabt, dann wäre sie ihm wohl aus den Händen gerissen worden.
Aber die Kräfte des verwundeten Tieres ließen schnell nach. Wenig später konnten die beiden Jungen die Schildkröte in das flache Wasser über einer Sandbank ziehen. Dort sprangen sie aus dem Kanu, schlugen die Schildkröte mit ihren Äxten auf den Kopf und wälzten sie darauf mit vereinten Kräften in das Kanu.
Sie hatten beide gerade noch Platz in dem Fahrzeug. Die Bordkante lag jedoch gefährlich nahe an der Wasserfläche, als sie wieder einstiegen. Glücklicherweise war das Meer noch immer morgendlich glatt und still.
„Ein Glück, daß sie nicht größer war!" sagte Läufer vergnügt. „Das war wirklich der beste Trick, den ich je beim Fischfang gesehen habe. Warte nur, wenn das der Häuptling und der Medizinmann erfahren!" „Was glaubst du, was sie dazu sagen werden?"
Stumpfnases Stimme hatte fast einen furchtsamen Klang.
„Ich weiß schon jetzt, was sie sagen. Es werden ihrer zwei sein, die am Fest des zurückkehrenden Mondes neue Namen erhalten, du wirst sehen. Was für ein Riese von einer Schildkröte! Sie reicht gut für drei richtige Festmahlzeiten — für jeden auf der Insel. Ja. verlaß dich darauf, der alte Großvater Mummel wird mit unserem Morgenfang zufrieden sein. Schildkrötensuppe mit viel Schildkröteneiern ist das Beste, was er kennt."
„Es wäre schön, wenn du recht hättest. Aber die Anregung hatte ich ja eigentlich von dir. Und wenn du das Kanu nicht erfunden hättest, dann wäre mein kleiner Trick wohl nicht viel wert gewesen."
„Doch, auch dann. Man kann ihn ja auch von einem Floß aus anwenden, obwohl es immerhin etwas schneller geht, wenn man in einem Kanu herumfährt und Schildkröten sucht."
Nun waren sie wieder am Ufer angelangt, aber sie mußten Männer zur Hilfe herbeirufen, um die schwere Beute an Land zu bringen.
Auf der Insel fand ein großer Schildkrötenschmaus statt, und danach gingen die Männer noch eifriger an den Kanubau. Nun wollten alle so bald als möglich ausfahren und Stumpfnases neuen Trick ausprobieren.
Der Medizinmann sagte an diesem Tage noch nichts. Aber als die beiden Jungen auch am nächsten Morgen eine Schildkröte fangen konnten, nahm er sie beiseite und meinte: „Morgen früh werdet ihr beide eure Künste Fregattvogel und Lange Lanze zeigen, dann müßt ihr mit euren Vorbereitungen für das Neumondfest beginnen."
Da wußten die beiden Jungen, daß sie bald in die Gemeinschaft der erwachsenen Männer aufgenommen werden sollten, und das ist der stolzeste Augenblick im Leben eines Indianers.
Die Weihe
Die Sonne war soeben hinter dem Horizont verschwunden. Die Meeresbrise sang in den Wipfeln der Bäume. Vom Meer her drang das dumpfe Dröhnen der Dünung, die sich an rauhen Korallenklippen brach.
An der Seite der großen Insel, die von der Meerenge und den Wohnstätten des Stammes am weitesten entfernt lag, saßen Läufer und Stumpfnase auf einem umgefallenen Baum am Strand.
Sie hatten ein kleines Feuer aus Zweigen angebrannt und warfen abwechselnd Blätter und trockne Kräuter in die Flammen. Wenn die Blätter zu brennen begannen, verbreiteten sie einen stark duftenden Rauch.
Die beiden Freunde hatten sich so hingesetzt, daß der Rauch ihnen direkt entgegenwehte. Sie taten das nicht, weil ihnen der Geruch des Rauches behagte, sondern weil das Rauchbad eine der vielen Vorbereitungen war, die ein junger Indianer treffen mußte, bevor er seinen „großen Namen" erhielt.
Es ist nämlich so, daß ein Indianerjunge in diesem Teil der Welt drei verschiedene Namen hat, von denen freilich immer nur jeweils einer gebraucht wird.
Der erste ist ein Kosename, den man ihm gibt, wenn er noch ganz klein ist. Wird er dann größer, so erhält er einen Jungennamen. Mit den ersten beiden Namen sind keinerlei Feste verbunden. Man kann sie mitunter sogar umtauschen, und es kann auch geschehen, daß ein drolliger Spitzname zu einem Jungennamen wird.