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Aber wenn ein Junge bewiesen hat, daß er ein ganzer Kerl ist, und besonders, wenn es ihm gelungen ist, etwas Kluges und Tüchtiges zu vollbringen, das der Familie oder dem ganzen Stamm nützlich ist, erhält er seinen richtigen oder „großen" Namen.

Dieser Name ist sehr wichtig, denn es ist der Name seiner Seele, und er trägt ihn dann das ganze Leben hindurch. Ehe er ihn bekommt — in der Regel von einem Häuptling oder einem Medizinmann —, muß er eine große Anzahl Vorbereitungen treffen, damit der neue Name Glück bringt, und zwar nicht nur ihm allein, sondern der ganzen Gruppe, zu der er gehört.

In erster Linie muß er unterrichtet werden. In einer Anzahl von Indianerstämmen unterrichtet ihn sein Vater; in anderen der Onkel mütterlicherseits. Das hängt davon ab, ob er das Totem seines Vaters oder seiner Mutter erbt, das bei den verschiedenen Völkern unterschiedlich ist.

Läufer und Stumpfnase waren Vettern, und beide waren elternlos. Fast ihre ganze Sippe war vor über zehn Jahren ertrunken, als plötzlich ein Orkan über das Land hinweggerast war und die schmale Landzunge zwischen der Küste und der Lagune fortspülte, auf der sie gewohnt hatten. Nur die beiden kleinen Jungen waren gerettet worden. Da sie keine nahen Verwandten hatten, war es die Pflicht des Häuptlings, sie zu unterweisen, zumal sie einem Zweig seines Totems angehörten, das heißt der Gruppe, die sich zu der Verwandtschaft Sägefischs zählte.

Als die Unterweisung beendet war, kamen die Reinigungszeremonien an die Reihe. Drei Tage hatten die beiden Freunde damit verbracht. Es war ein langes und strenges Programm, das sie über sich ergehen lassen mußten.

Wenn einer von ihnen während der Zeremonien auch nur einen einzigen Fehler beging oder gegen irgendeine Regel verstieß, mußte er ins Lager zurückkehren und ein volles Jahr warten, ehe er noch einmal versuchen konnte, die Vorbereitungen hinter sich zu bringen.

Dann würden ihn die Frauen auslachen, ihn Holz und Wasser schleppen, Fische säubern, Schnecken mürbe klopfen und lauter Arbeiten verrichten lassen, die nach der allgemeinen Meinung eines Mannes unwürdig waren und die kein Junge gern tat.

Die Männer würden so tun, als sähen sie ihn nicht, und die kleinen Jungen würden Spottlieder auf ihn dichten.

Lieber hielt man da schon alles nur Erdenkliche aus, als daß man sich einer solchen Schande aussetzte.

Die Proben waren ziemlich schwer.

Drei Tage lang durften die Jungen mit niemand sprechen, nicht einmal miteinander. Sie durften nichts anderes essen als gestampften und gerösteten Mais, und zwar nur zweimal eine Handvoll am Tage.

Sie durften kein Tier töten, nicht einmal eine Mücke oder eine Sandfliege, und auch ein totes Tier nicht berühren. Sie durften keine lebende Pflanze abbrechen und auch kein grünes Blatt und keine Blume abpflücken.

Tag und Nacht mußten sie ein Feuer unterhalten, durften darüber jedoch nichts kochen oder braten. Sie durften sich nicht unter ein Dach begeben, nicht einmal wenn es regnete oder stürmte. Sie durften keine Hängematte benutzen, sondern mußten auf dem nackten Ufersand schlafen, ohne Kopfunterlage.

Doch damit noch nicht genug.

Zu bestimmten Zeiten am Tage und in der Nacht mußten sie sich erheben und die Sonne und das Meer, die Erde, den Wind und die Sterne grüßen.

Mehrmals am Tage mußten sie im Meer baden, sich mit getrockneten Kräutern einreiben, die ihnen der Medizinmann gegeben hatte, sich mit Süßwasser waschen und bis zuletzt in dem Kräuterrauch des Feuers sitzen.

Es gab sogar Bestimmungen, die ihnen vorschrieben, was sie zu denken hatten. Sie durften nichts Böses oder Häßliches denken, denn dann war alles umsonst.

Während die Jungen mit diesen Vorbereitungen beschäftigt waren, durften weder Frauen noch Kinder den Fuß in den ihnen zugeteilten Bezirk setzen, der in diesem Fall die große Insel war.

Die erwachsenen Männer mußten das Wasser aus dem Teich holen, und hin und wieder schlich sich einer von ihnen in die Nähe der Jungen, um nachzusehen, ob sie wirklich alle Vorschriften erfüllten und auch nichts vergaßen.

Weihte man sie ohne ordentliche Vorbereitung zu Männern, dann würde es sicher ein Unglück geben.

Wenigstens glaubten das die Bocaná-Arowaken.

Die Gefahr, daß die Jungen vorsätzlich mogelten, bestand kaum.

Es war nicht die Art der Arowaken, zu lügen oder zu betrügen. Sie hielten das für feige und schändlich. Außerdem glaubten sie, daß ein Junge, der bei seiner Weihe zum Erwachsenen nicht alle Vorschriften genau beachtete, alle guten Geister und besonders seinen Totem-Geist reizen würde, dessen Aufgabe es war, ihn zu beschützen und ihm gute Ratschläge zu erteilen, solange er lebte.

Natürlich war keiner so dumm, daß er es mit seinem Totem verdarb. Woher sollte er dann Hilfe bekommen, wenn er einmal in Schwierigkeiten geriet?

In diesem Augenblick saßen die beiden Freunde am Strand und blickten nach Westen. Das flammende Abendrot war langsam am Erlöschen. Noch ein Weilchen, dann würde die Mondsichel erscheinen.

Auf der anderen Seite der Insel begann eine Trommel zu dröhnen. Zuerst drangen die Laute ganz schwach herüber, dann wurden sie lauter und schneller, um nach einer Weile wieder verhaltener zu werden und ganz zu verstummen.

Es schien jetzt noch stiller als zuvor. Nur das Meer murmelte dumpf wie im Schlaf.

Das Trommeln setzte wieder ein, nun lauter und deutlicher.

Eine ganze Anzahl von Fackeln begannen im Walde aufzuleuchten. Zeitweilig verschwanden sie für kurze Zeit hinter Büschen und Baumstämmen. Als sie wieder sichtbar wurden, waren sie schon viel näher. Jetzt traten die Fackelträger aus dem dichten Walde. Es waren sechs von den erwachsenen Männern des Stammes : Sägefisch, Steinmesser, Habichtfeder, Lange Lanze, Fregattvogel und Zwei Harpunen.

Sie waren von Kopf bis Fuß schwarz und rot bemalt, trugen Unmengen von Halsbändern und hatten bunte Federn in die Stirnbänder gesteckt.

Einen Augenblick verharrten sie reglos. Dann setzten sie sich wieder in Bewegung und blieben unmittelbar vor den beiden Jungen stehen, die sich erhoben hatten, um sie zu empfangen. Ohne daß ein Wort gesprochen wurde, bildeten die sechs einen Kreis um die beiden. Darauf marschierten alle acht in den Wald hinein.

Auf einer Lichtung in der Mitte der Insel brannten vier große Feuer, an jeder Ecke eins. In der Mitte war ein gewaltiger viereckiger Reisighaufen aufgeschichtet, und unmittelbar daneben saß auf einem Baumstamm der Medizinmann.

Der alte, freundliche Großvater Mummel war wie verwandelt. Noch nie hatten ihn die Jungen so gesehen. Auf dem Kopfe trug er eine hohe Krone von schneeweißen Reiherfedern, dazu einen langen Baumwollmantel mit aufgemalten magischen Figuren und viele Halsbänder aus Krallen und Zähnen. Unter seinen Füßen lag ein grinsender Krokodilschädel. Er verkörperte die bösen Mächte, die besiegt werden sollten. Quer über seinen Knien lag ein seltsamer Gegenstand — die große „Säge" vom Kopf eines Sägefischs. In der Urzeit habe ein solcher Fisch die Erde aus dem Meer gehoben, so berichtete eine Sage, und daher war er ein mächtiger Schutzgeist.

Die Männer mit den Fackeln traten zur Seite, so daß die beiden Jungen allein blieben. Schulter an Schulter standen sie unmittelbar vor dem Medizinmann. Er sah sie ernst und fast streng an.

„Hat einer von euch mit einer Handlung oder mit Worten oder mit Gedanken gegen die Regeln verstoßen?" fragte er.

Läufer und sein Freund schüttelten die Köpfe. Sie wußten genau, daß sie alles getan hatten, was die Vorschrift verlangte.

„Hast du kein Verlangen gehabt, Fleisch oder Fisch zu essen?" fragte der Medizinmann Stumpfnase und sah ihn scharf an.

„Doch!"

„Und was hast du da getan — und was hast du da gedacht?"