„Ich habe den Gedanken ans Essen vertrieben. Ich dachte, es sei wichtiger, ein richtiger Mann zu werden."
Der Alte nickte still und wandte sich an Läufer.
„Hast du kein Verlangen verspürt, wieder ins Lager zurückzukehren und mit deinen Freunden zu plaudern?"
„Ja, aber nicht als Junge."
Wieder nickte der Medizinmann.
Dann wandte er sich an den Häuptling und fragte ihn: „Sägefisch, ist der Mond schon zu sehen?"
„Nein, Stehender Bär, der Mond ist noch nicht zu sehen."
Ein kalter Schauer lief den beiden Jungen über den Rücken, als sie hörten, wie der Häuptling den Medizinmann mit seinem magischen Namen anredete. Das geschah nur bei sehr feierlichen Anlässen. Der Alte wandte den Blick von Sägefisch nach den Jungen und sagte mit tiefer Stimme: „Während wir auf den wiederkehrenden Mond warten, werde ich euch von den Mächtigen und von Taj erzählen, von dem, der da wiederkehren wird."
Die beiden Jungen standen wie aus Stein gehauen, während der Medizinmann die Legenden von der Sonne und ihrer Tochter, von der Erde und dem Meer, von den Sternen und von der heiligsten aller Sagen berichtete: vom Mond und von Tag.
Von Taj dem Ackerbauer, der vor langer, langer Zeit vom Mond kam und bei den Vorvätern der Arowaken Wohnung nahm, als sie auf den Hügeln an der großen Lagune lebten. Von Taj, der das Volk gelehrt hatte, Mais zu säen, Fäden zu spinnen und Baumwollstoff zu weben der ihnen Gesetze gegeben hatte, ehe er auf ein Floß von Schlangenhaut stieg und zum Mond zurücksegelte.
Von Taj dem Guten, der einst zu ihnen zurückkehren würde, wenn sie seinen Willen erfüllten.
„Wer das Land bebaut und Nahrung für seinen Stamm bereitet, der tut Tajs Willen. Wer in Frieden und Eintracht mit seinen Nachbarn lebt, der gehorcht Tajs Gesetzen. Wer versöhnlich, hilfsbereit und freigebig ist, der versucht Taj zu gleichen. Wer Wild oder Fische oder irgendein lebendes Wesen nicht unnötig tötet, der erfüllt Tajs Willen. Wer das Leben leichter macht und Frieden zwischen Menschen stiftet, der macht, daß Taj zu uns zurückkehrt."
Der alte Medizinmann schwieg und saß eine Zeitlang in Gedanken versunken da. Dann wandte er sich an Sägefisch und fragte ihn: „Häuptling, ist der Mond schon zu sehen?"
„Ja, Stehender Bär, jetzt ist er zu sehen."
„So zündet des Mondes Feuer an I So, wie der Mond zurückkehrt, nachdem er eine Zeitlang verschwunden war, so wird einst Taj zu seinem Volk zurückkehren, und dann wird alles Böse schwinden."
Vier der Männer steckten neue Fackeln von Palmenblättern in die vier Feuer und drehten sie in den Flammen, bis sie hell brannten. Dann sprangen sie an den großen Reisighaufen und zündeten ihn an allen vier Ecken an.
Als er entflammt war, so daß der Feuerschein die ganze Lichtung erhellte, erhob sich der Medizinmann und sagte: „Möget ihr beiden jungen Männer an Stärke und Klarheit wachsen wie der neue Mond! Möget ihr dazu beitragen, die Welt zu ordnen und besser zu machen, so daß Taj bald zu seinem Volk zurückkehrt."
Er legte Läufer seine alte, runzlige Hand auf den Kopf.
„Du, mein Sohn, hattest von allen den schärfsten Blick für die Dinge, die wir am ehesten brauchen", sagte er. „Du hast uns Flüchtlingen hier mitten im Meer die Möglichkeit geschaffen, dereinst wieder leichter zurückzukehren in unser reiches Küstenland. Das ist die Tat eines Mannes. Du bist nun ein Mann, Adlerauge!"
Die Männer mit den Fackeln stießen einen lauten Jubelschrei aus, und die Trommel dröhnte durch die Nacht.
Der Alte verharrte eine Zeitlang in Schweigen. Dann legte er die Hand auf Stumpfnases dunkles Haar.
„Du bist heiter und willig, mein Sohn", sagte er. „Du bist geduldig und hast scharfe Augen wie der große graue Reiher, unser Stammesvogel. Du hast etwas erfunden, das leicht zu tun ist und uns das Leben auf diesen Inseln erleichtert. Das ist die Tat eines Mannes. Du bist nun ein Mann, Grauer Reiher!"
Wieder dröhnte die Trommel, und wieder ertönte von den Männern her ein Freudenschrei. Sie packten die beiden jungen Männer und setzten sie mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Mit scharfen Feuersteinmessern schnitten sie ihnen das lange Haar im Nacken glatt ab und warfen es ins Feuer.
Es tat weh, aber die Freunde verzogen keine Miene. Jetzt waren sie ja Männer und mußten zeigen, daß sie Schmerzen ertragen konnten, ohne zu jammern. Wenn es nicht schlimmer kam, dann war es schon auszuhalten.
Nach dem „Haarschneiden" kam das Bemalen. Steinmesser wurden hervorgeholt, dazu zwei kleine Schalen. In der einen davon befand sich cine Art roter Teig, in der anderen eine dunklere Flüssigkeit. Der Häuptling tauchte dünne Holzstäbchen in die Farben und malte den beiden Neugeweihten geheimnisvolle Muster auf die Gesichter und die Arme. Es waren die Stammes- und Totemzeichen, die Manneszeichen und Figuren, die ihnen Glück bringen und die Geister freundlich für sie stimmen sollten.
Sobald sie vollständig und schön bemalt waren, durften sie sich wieder erheben. Nun drängten sich die Männer um sie, klopften ihnen auf die Schultern, hängten ihnen einige ihrer schönsten Halsbänder um und steckten ihnen Federschmuck ins Haar.
Dann verschwanden mehrere von ihnen in den Büschen und kamen mit Krügen, Tonschalen und Holztellern zurück, die voller Speisen waren — vom Besten, was die Inseln zu bieten hatten.
Es gab Schildkrötensuppe mit großen, fetten Fleischstücken, Schildkröteneier, gekochte Krabben, gewaltige Hummer ohne Scheren, am Spieß gebratene Fische, in der Schale gebackene Muscheln und eine Art Schmorspeise von Schnecken, Garnelen und fetten Fischen. Jeder Haushalt der kleinen Insel hatte zu dem Festschmaus wenigstens einen Topf Essen beigesteuert.
Die Männer setzten ihre Gerichte mitten auf die Waldlichtung und zogen die Neugeweihten mit aller Kraft heran.
„Eßt, eßt!" schrien sie. „Das Fasten ist zu Ende! Nun seid ihr Männer!"
„Hier ist ein Schildkrötenei für den Grauen Reiher!" rief Habichtfeder und hielt eine Tonschale in die Höhe. „Wir haben diese Schildkröte mit einem Schildfisch gefangen, wie Grauer Reiher es uns gezeigt hat."
„Diese große Languste soll Adlerauge haben!" rief Fregattvogel. „Ich bin von seinem Kanu aus nach ihr getaucht."
Adlerauge und Grauer Reiher setzten sich mitten in den Kreis und taten sich gütlich. Sie freuten sich, daß sie so ehrenvolle Namen erhalten hatten, noch mehr jedoch, daß sie nun richtige Männer des Stammes waren.
Mochten sie noch so hungrig sein, so hielten sie sich doch genau an die Tischsitten. Es soll ja niemand denken, daß es keine Tischsitten gibt, auch wenn man mit den Fingern ißt. Sie aßen langsam und würdig, wie es Männern zukam.
Das Fest dauerte bis lange nach Mitternacht. Die Indianer sangen, schlugen die Trommel und tanzten zwischen den Feuern — sowohl den Hirschtanz wie auch den Geier- und den Tarpon-Tanz.
Als sie vom Tanzen müde waren, aßen sie wieder, und schließlich begannen sie Sagen vom ersten Adlerauge zu erzählen, von dem Manne, der Tajs Gehilfe war, als sie den heiligen Mais aus dem Land der untergehenden Sonne holten. Auch vom ersten Grauen Reiher, der der Stammvater aller Bocaná-Indianer war und das Floß, den Angelhaken und die Harpune erfunden hatte, erzählten sie.
Der Medizinmann saß auf seinem Baumstamm, lächelte über das Gebaren der jungen Männer und rauchte eine lange Pfeife mit einem Tonkopf. Er war der einzige des Stammes, der das durfte. Die BocanáArowaken hielten den Tabak für ein Zauberkraut, und es mußte schon ein Medizinmann sein, um es ohne Schaden rauchen zu können.
Erst als der Morgen sich ankündigte, schliefen die Indianer ein paar Stunden.
Als sie erwachten, spülten sie erst einmal alle Schläfrigkeit ab, indem sie ein Stück ins Meer schwammen; und dann fuhren sie in einem Triumphzug zu der kleinen Insel zurück.