Dann war es dem Häuptling endlich genug. Er sagte zu den Männern, die er als Begleiter ausgewählt hatte, sie sollten ihre Waffen nachsehen und einige große Kalebassenflaschen mit Trinkwasser füllen.
Am nächsten Morgen, wenn das Wetter schön war, wollten sie losfahren.
Die Reise nach Titi-pán
Vor dem Morgengrauen lag das Meer glatt wie ein Spiegel da. Sägefisch und seine Begleiter, mit denen er sich auf die Reise begeben wollte, frühstückten in größter Eile. Dann brachten sie ihre Sachen in das Kanu und stießen vom Land ab. Die jungen Männer und die Jungen paddelten, der Häuptling saß am Heck und steuerte.
Als die Sonne aufging, hatten sie bereits ein Drittel ihres Weges zu der anderen Inselgruppe hinter sich gebracht.
Sägefisch band einen Angelhaken aus Perlmuschelschale an eine Angelschnur und warf ihn aus, so daß er in einiger Entfernung hinter dem Kanu hergeschleppt wurde. Die Schale war dünn geschliffen und in der Form eines Fisches ausgeschnitten, aber die Mitte der Schwanzflosse ragte heraus und bildete den eigentlichen Haken. Wenn Sägefisch von einem Floß aus angelte, pflegte er den Haken so weit hinauszuwerfen, wie er konnte, um ihn alsdann wieder einzuholen; aber jetzt ließ er ihn hinterherschwimmen.
Nach kurzer Zeit legte er plötzlich das Paddel aus der Hand, zog die Schnur ruckartig an und begann sie dann einzuholen.
Ein fast armlanger Fisch schnellte über die Kante des Kanus. Seine Seiten zeigten längliche blaugrüne Flecken, und dazwischen schimmerte er in allen Farben des Regenbogens wie Perlmutter. Der Fisch war eine „Sierra", sie wurde auch spanische Makrele genannt.
„Gutes Essen für die nächste Mahlzeit, wenn wir Feuer anmachen können,” sagte der Häuptling mit zufriedenem Lächeln. Dann tötete er den Fisch und warf den Haken wieder aus, aber nun biß kein Fisch mehr an.
Mittlerweile konnten sie sehen, daß die Gruppe vor ihnen aus vier Insel.n bestand.
Die am nahesten lag, war klein und flach, nicht größer als die heimatliche Insel, stellenweise mit Mangrovenbüschen und kurzen Bäumen bewachsen, auf deren Zweigen Hunderte von Fregattvögeln ihre Nester gebaut hatten.
Die zweite Insel war ganz mit Wald bedeckt und etwas kleiner als die, auf der sie die Kanus angefertigt hatten. Die dritte war eigentlich nur ein Haufen von dunklen Korallenklippen, eher eine Schäre als eine Insel. Sie befand sich in dem Sund zwischen den beiden größten Inseln.
Die vierte Insel sah ganz anders aus. Sie war wenigstens zwei Kilometer lang, und mitten über sie hinweg zog sich eine Anhöhe, auf der viele verschiedene Baumarten wuchsen.
Adlerauge zeigte erfreut auf die Kronen einiger mächtiger Ceibabäume, die wie runde Kuppeln über die anderen Baumwipfel hinausragten.
„Da ist Holz für unsere Kanus", sagte er.
„Es kann auf dieser Insel auch noch andere nützliche Dinge geben", erwiderte Sägefisch. „Paßt alle gut auf, ob ihr irgendwo Rauch seht! Es wäre doch merkwürdig, wenn es auf einer so großen und schönen Insel keine Menschen gäbe."
Immer näher glitt das Kanu über das morgendlich blanke Meer an die Inseln heran, aber keiner der Ruderer konnte andere Lebenszeichen erkennen als Vögel und hier und da einen springenden Fisch.
„Wir gehen zunächst auf der zweitgrößten Insel an Land", entschied der Häuptling. „Von dort aus werden wir sicher Ausschau nach der großen Insel halten können. Sehen wir am Tage keine Lebenszeichen und bei Nacht keine Feuer, dann können wir morgen früh zu ihr hin überrudern. Denkt daran: keiner darf Feuer anmachen oder sich unten am Strand sehen lassen."
Sie fuhren in einem großen Bogen um die kleinere der waldbedeckten Inseln. Als sie den Strand erreicht hatten, steuerten sie das Kanu an eine flache Sandbank, legten Baumstammrollen unter das Fahrzeug und zogen es schnell in die Büsche.
Dann nahm Grauer Reiher ihren Topf — einen von den letzten, die der Stamm noch besaß — und watete in das seichte Wasser hinaus. Er füllte den Topf mit Meerwasser und spülte die Schleifspuren des Kanus von dem Uferstreifen.
Weiter oben fegte Adlerauge den Strand mit ein paar Zweigen glatt, die er in einer Dickung abgebrochen hatte, wo es nicht auffiel. Als sie damit fertig waren, hätte ein Mensch wirklich scharfe Augen haben müssen, um zu entdecken, daß hier ein Boot gelandet war.
Grauer Reiher watete den Strand entlang, bis er an eine Stelle gelangte, wo das Buschwerk ins Wasser hineinwuchs. Dort ging er an Land und stieg von Wurzel zu Wurzel, bis er auf einige harte Korallenblöcke gelangte.
Darauf schlichen sie alle fünf nach der entgegengesetzten Seite der Insel, um einen passenden Aussichtspunkt zu suchen.
Stunde um Stunde verharrten die drei Männer dort reglos und gut verborgen, während sich die beiden Jungen im Schatten ausruhen durften. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, sagte Sägefisch zu Frosch, er solle zum Kanu zurückgehen und einige getrocknete Fische und eine Flasche Trinkwasser holen.
Wenigstens vier Stunden hielten sie Ausschau, ohne daß sie auch nur ein Zeichen wahrnahmen oder einen Laut hörten, die auf Menschen schließen ließen.
Es waren ungefähr achthundert Meter bis zur größten Insel, nicht ganz in der Mitte des Sundes lag die kleine kahle Schäre aus Korallenklippen.
„Nicht das geringste ist zu sehen", sagte Adlerauge schließlich.
„Wir müssen bis zum Abend warten", erwiderte Sägefisch. „Wenn dort Menschen wohnen, müssen sie sicher früher oder später Essen kochen, und dann sagt uns das Feuer, wo sie sich befinden."
Im selben Augenblick stieß Grauer Reiher ein leises Zischen aus. Die anderen sahen ihn fragend an.
Er zeigte nach den Korallenklippen. Zwischen den Blöcken waren zwei braune Gestalten aufgetaucht.
Jetzt liefen sie ins Wasser, warfen sich hinein und begannen geradeswegs auf die Stelle loszuschwimmen, an der sich die Arowaken verborgen hielten.
Noch ehe die Schwimmer weit gekommen waren, stieß Sägefisch einen verhaltenen Ruf aus: „Da — drüben auf der großen Insel! An der langen Landzunge — links! Kariben!"
Einige kleine Gestalten tauchten an dem offenen Strand auf. Sie zogen und zerrten etwas — es war ein großes Kriegskanu. Schließlich hatten sie es im Wasser.
Drei von ihnen sprangen hinein und begannen den beiden Schwimmern nachzupaddeln.
Diese waren unterdessen ein gutes Stück vorangekommen. Sie hatten nur noch ein Viertel der Strecke zurückzulegen. Aber das schnelle Kanu kam ihnen rasch näher. Glücklicherweise befanden sich die beiden im Windschatten der waldbedeckten Insel und wurden nicht allzu-sehr von den Wellen behindert, während die Verfolger draußen auf dem offenen Sund gegen Wind und See anpaddeln mußten.
Als die Flüchtlinge endlich im flachen Wasser angekommen waren, hatte sich ihr Vorsprung auf knapp achtzig Meter verringert.
Sie richteten sich auf und begannen halb springend zu waten, so daß das Wasser aufspritzte.
„Menschen unseres Volkes, ein Junge und ein Mädchen", flüsterte Sägefisch. „Laßt sie nur vorbeilaufen und haltet die Bogen bereit. Wenn die Kariben sie verfolgen, dann..."
Sein sonst so freundliches und ruhiges Gesicht hatte einen verbissenen, grimmigen Ausdruck angenommen.
Grauer Reiher warf einen Blick hinter sich.
„Da kommt Frosch mit dem Essen”, flüsterte er. „Psst l Versteck dich! Auch du, Dummschnut!"
Frosch verschwand in den Büschen wie ein gejagtes Kaninchen, aber Dummschnut trat nur hinter eben Baum, einige Meter vom Häuptling entfernt. In der Hand hielt er Adlerauges Jagdspeer.
Jetzt stürzten die Flüchtlinge an Land und das Ufer hinauf. Keuchend rannten sie geradeswegs in den Wald hinein. Das Mädchen kam kaum zehn Schritt von Adlerauge entfernt vorbei. Da bemerkte es die geduckte Gestalt mit dem gespannten Bogen in den Händen.