Das Feuer war rasch angebrannt, und zwar dicht an der Stelle, wo das Kanu der Kariben vor Anker lag. Darauf eilten alle sieben zu ihrem Kanu zurück, schoben es ins Wasser und begannen ihre Fahrt über den Sund.
Plötzlich gab der Häuptling den anderen ein Zeichen: sie sollten mit Paddeln aufhören und ihm zuhören.
„Die Strömung trägt uns an unser Ziel", flüsterte er. „Wenn wir an Land kommen, teilen wir uns in zwei Gruppen. Unsere Schwester Ibis zeigt Adlerauge und Feuersteinherz den Weg um das Lager. Wir anderen kommen von dieser Seite mit Schnellfuß, der uns den Weg weist. Wenn ich zweimal wie eine Eule schreie, antwortet Adlerauge mit einem einzigen Eulenschrei. Wie schießen die Jungen?"
„Nicht besonders", antwortete Adlerauge. „Feuersteinherz und Schnellfuß können wohl einen Pfeil abschießen, aber wohin er dann fliegt, das ist eine andere Sache. Vielleicht können sie einen Feind auf eine Entfernung von zehn Schritt treffen. Frosch kann nicht einmal den Bogen richtig spannen."
„In ein oder zwei Jahren wird das wohl besser werden. Heute nacht muß er sich mit dem Speer behelfen, wenn es notwendig werden sollte. Nun müßt ihr wieder ein wenig paddeln, damit man das Kanu steuern kann. Aber nicht plätschern !"
Lautlos wie ein Schatten glitt das Kanu über das dunkle Wasser. Meeresleuchten umspielte den Bug. Mitunter hörten sie das Geräusch eines springenden Fisches. Einmal sahen sie aus dem Meer die Rückenflosse eines jagenden Haifisches dicht neben dem Kanu auftauchen und vorbeistreichen.
Vor ihnen erhob sich eine schwarze, undeutliche Masse aus dem Meer. Sie waren bereits nahe an Titi-pán herangekommen.
Jetzt konnten sie unmittelbar unterhalb der dunklen Umrisse des Waldes einen verschwommenen helleren Streifen erkennen. Bis zum Sandstrand war es nur noch ein Bogenschuß.
Schweigend stießen sie in das flache Wasser, als es ihnen etwa bis an die Knie reichte. Sie hoben den Bug des Kanus und legten eine Rolle von Balsaholz darunter. Dann packten alle Mann die Kanten des Kanus und eilten mit ihrem Fahrzeug die Sandbank hinauf. Als es vor den Wellen sicher war, verharrten sie und blieben lange lautlos stehen. Alle lauschten in die Nacht.
Hatten die Kariben das Plätschern und das Schaben auf dem Sand gehört? Das war kaum wahrscheinlich. Ihr Lager befand sich fast einen Kilometer entfernt hinter einer Landzunge.
Ohne daß ein Wort gesprochen zu werden brauchte, teilte sich die kleine Schar in zwei Gruppen.
Die eine, die sich aus Ibis, Adlerauge und Feuersteinherz zusammensetzte, schlich sich sogleich in eine kleine Bodensenke und verschwand im Walde.
Die andere, die unter dem Befehl des Häuptlings stand, verbarg sich in den Büschen am Strand, um dort zu warten, bis die Kameraden einen genügend großen Vorprung hatten.
Der Bogen des Kriegsgottes
Dunkel stand der Wald. Es dauerte noch eine gute Weile, bis der Mond aufging.
Wie eine jagende Wildkatze schlich sich Adlerauge zu dem kleinen Lichtkreis, der vor ihm durch einen dichten Vorhang von Strandtraubenbüschen schimmerte.
Nun war es nicht mehr weit. Adlerauge verharrte, fest an einen dicken Baumstamm gedrückt, um das Lager zu überschauen.
Hinter ihm standen Feuersteinherz und das Mädchen wie Bildsäulen am Rande einer Didcung.
Nur einige wenige Schritte vom Lagerfeuer entfernt saß ein alter Karibenkrieger und rauchte eine lange Pfeife mit einem Tonkopf. Ein Junge, kaum älter als Feuersteinherz, trat aus dem Dunkel und legte einige dürre Äste in das Feuer, so daß es aufflammte und den Lichtkreis vergrößerte.
Weiter hinten sah man unter einem Baum drei reglose Bündel liegen. Das mußten die Gefangenen sein.
Lebten sie noch?
Ja — einer der kleinen Jungen jammerte.
Der junge Karibe nahm eine Tonschale, füllte sie mit Wasser aus einer Kalebassenflasche und ging zu den Gefangenen.
„Bringst du dem Arowakenpack schon wieder zu trinken?” fragte der Alte grimmig. „Man merkt, daß du ein weichherziges Halbblut und kein echter Karibe bist. Laß sie warten bis morgen!"
„Wenn wir ihnen kein Wasser geben, werden sie sterben, und dann bringen wir keine Gefangenen heim ins Dorf", wandte der andere ein.
Adlerauge verstand nicht, was in der fremden Sprache geredet wurde, aber er konnte es sich ungefähr denken.
„Es wäre besser, wir schlügen sie gleich tot, dann brauchten wir uns nicht die Mühe zu machen, sie zu bewachen", nahm der Alte das Gespräch wieder auf. „Wir sollten jetzt keine Gefangenen mitschleppen, wo wir nur noch zwei sind und den Bogen des Kriegsgottes zu bewachen haben."
Vorsichtig legte er die Hand auf ein langes, schmales Bündel, das in einen federgeschmückten Baumwollmantel eingehüllt neben ihm auf einem niedrigen Holzgestell lag.
„Klapperschlange würde nicht gerade erfreut sein, wenn wir die Gefangenen erschlügen, ohne ihn vorher gefragt zu haben", wandte der Junge dagegen ein.
„Dann hätte er sie doch selber bewachen sollen! Warum ist er denn mit den anderen noch nicht wieder zurückgekommen? Sie hätten die Arowakensklaven doch auf jeden Fall erwischen müssen. Schlafen die etwa da drüben — ihr Feuer scheint doch auszugehen?"
In diesem Augenblick ertönte von der anderen Seite des Lagers her ein Eulenschrei. Nach einigen Sekunden ein zweiter.
Adlerauge antwortete mit einem kurzen, scharfen Schrei.
Braune Gestalten mit gespannten Bogen schienen gleichsam aus dem Gebüsch zu beiden Seiten des Feuers hervorzuwachsen.
Der alte Karibenkrieger sprang auf und sah sich verblüfft um. Er riß eine schwere Karibenkeule an sich und eilte zu den Gefangenen. Doch er hatte noch nicht den halben Weg zurückgelegt, als ihn die Pfeile erreichten.
Sein junger Kamerad riß einen Bogen an sich und rannte wie ein auf gescheuchter Rehbock geradeswegs in das Dickicht hinein. Man hörte dort einen dumpfen Aufprall, als seien zwei Menschenleiber gegeneinandergerannt, und dann die Laute eines Ringkampfs.
Schließlich war die wütende Stimme des Grauen Reihers zu vernehmen: „Rühr dich nicht, Karibenschurke, oder ich dreh dir den Hals um!"
Adlerauge und Feuersteinherz eilten den Lauten nach und fanden den Grauen Reiher, wie er rittlings auf dem Rücken des überwältigten Kariben saß und ihm gerade das Gesicht auf die Erde drückte. Gemeinsam richteten sie den Gefangenen auf, stellten ihn auf die Füße und führten ihn ans Feuer, wo Sägefisch sie erwartete.
„Was machen wir mit dem?" fragte Grauer Reiher. „Schicken wir ihn über den unterirdischen Fluß, seine Kameraden zu suchen?"
„Tötet ihn nicht!" bat unvermutet eine sanfte Stimme, und die ältere Schwester von Ibis trat zu der Gruppe. „Er ist die ganze Zeit gut zu uns gewesen und hat uns Essen und Wasser gegeben, sooft er es sich vor dem alten Ungeheuer da getraute."
Sie zeigte voller Verachtung auf den toten Karibenkrieger.
Ibis und Schnellfuß hatten ihre Geschwister sofort befreit, die sich jetzt die eingeschlafenen Arme und Beine rieben. Die Kariben hatten sie mit dicken Lianen an die Wurzeln des Baumes gebunden. „Bindet den Gefangenen", sagte der Häuptling. „Dann werden wir bestimmen, was mit ihm geschehen soll. Verstehst du Arowakisch, Karibe?"
„So gut wie du", erwiderte der Gefangene keck. „Meine Mutter war eine Arowakin von einer der kleinen Inseln hinter Barú. Mein Vater raubte sie aus ihrem Dorf. Nun sind beide tot. Sie lehrte mich Arowakisch sprechen, als ich klein war."