„Dann bist du ja eigentlich mehr Arowake als Karibe", sagte Adlerauge nachdenklich. „Ich frage mich sogar, ob du nicht gar zu einer von unseren Sippen gehörst. Hat dir deine Mutter davon etwas gesagt?"
„Sie hat immer gesagt, sie gehöre zur Adler-Sippe. Bisher habe ich mit dieser Verwandtschaft nichts zu tun haben wollen, denn ich hörte die Kariben immer sagen, die Arowaken seien feige Wichte. Aber wie es scheint, gilt das doch nicht für alle."
Er fuhr plötzlich zusammen und starrte unverwandt auf den Bogen und die Halsbänder, die Feuersteinherz trug.
„Seid ihr Klapperschlange begegnet?" fragte er erstaunt. „Mir scheint, ich erkenne seinen Schmuck."
„Auf der Insel, die dieser gegenüberliegt, sind wir drei Kariben begegnet. Ihre Bogen tragen jetzt unsere Jungen."
Verblüfft starrte der Gefangene Adlerauge an.
„Wer von euch hat Klapperschlange besiegt, den Kriegshäuptling der Küstenkariben?" fragte er schließlich. Seine Worte verrieten Bewunderung.
Der Häuptling zeigte auf Feuersteinherz. Der Gefangene schwieg eine Zeitlang und sah den Jungen nachdenklich an.
„Die Prophezeiung des alten Medizinmannes scheint nun doch in Erfüllung gegangen zu sein", sagte er dann.
"Was hat er denn vorausgesagt?"
„Da ich ja ein halber Arowake bin und du mein Leben geschont hast, will ich es dir sagen. Jener Medizinmann lebte vor langer, langer Zeit. Er prophezeite, die Kariben würden sich zu den Herren des ganzen Küstenlandes machen, und es würde ihnen alles gelingen, bis sie auf einen Stamm von arowakischen Bogenschützen treffen würden, der so stark sei, daß seine Jungen unsere tapfersten Krieger niederschlagen könnten. Und das hat dieser junge Mann da ja gerade getan. Es hat ihm keine geringe Ehre eingebracht, daß er Klapperschlange tötete. Die Kariben pflegten über jene Prophezeiung zu lachen und zu sagen, ihr Glück würde ‚ewig' währen. Ich habe es auch geglaubt, aber nun bin ich dessen nicht mehr sicher. Ja, und noch etwas sagte der • Medizinmann. Von diesen Arowaken sollte einer den Bogen des Kriegsgottes spannen können."
„Den Bogen des Kriegsgottes? Was ist denn das?"
„Ein heiliger Bogen, so groß und so stark, daß kein Krieger ihn spannen kann. Da liegt er." Der Gefangene verneigte sich ehrerbietig vor dem großen Bündel auf dem Holzgestell. „Wir waren gerade mit einer Kanuladung von Bogenholz und Pfeilschäften auf dem Weg von der Insel Banú nach dem Dorf am Reiherfluß. Wir mußten doch den Bogen des Kriegsgottes mit auf die Reise nehmen, damit er einen Teil seiner Zauberkraft auf die neuen Waffen übertragen konnte. Wir kamen aber zu weit von der flachen Landzunge ab, und da erblickte Klapperschlange draußen im Meer etwas, das aussah wie eine Rauchsäule. Also ruderten wir hierher. Der Häuptling hegte den Verdacht, einige arowakische Flüchtlinge hätten Feuer auf einer der Inseln angezündet, und damit hatte er ja recht. Wer hätte jedoch gedacht, daß alles so enden würde!"
Sägefisch nahm das Bündel von dem Gestell. Es war fast doppelt so lang wie er selbst. Er befreite es von dem Mantel und begann es aufzuwickeln. Eine Fülle von Baumwolltüchern umhüllte zwei lange Futterale aus Baumrinde, rot und schwarz bemalt.
In dem einen lag ein Bogen, fast drei Meter lang und im Verhältnis zu seiner Länge sehr stark. Der gedrehte Strang von auserlesenen Fasern war so dick wie ein kleiner Finger. Der Bogen war mit mehreren Farben bemalt, mit auf Schnuren gezogenen bunten Federquasten und mit polierten Schneckenhäusern verziert.
Das andere Bündel enthielt drei Pfeile mit Spitzen aus einer schwarzen Gesteinsart, die man auf Hochglanz poliert hatte. Jeder Pfeil war so groß wie ein gewöhnlicher Jagdspeer.
„Wenn der Kriegsgott den Kariben einmal zürnt, dann nimmt er seinen Bogen und schießt einen Pfeil in ihr Lager", erklärte der Gefangene. „Das ist natürlich noch nie vorgekommen, aber die Medizinmänner sagen, wenn es einmal geschähe, dann müßten sie allen Kampf vermeiden, bis der Kriegsgott wieder versöhnt sei — und das könnte lange dauern. Sie pflegen uns damit zu drohen, wenn wir nicht alles tun, was sie wollen. Und wenn er zwei Pfeile abschießt..."
Der Gefangene schwieg plötzlich.
„Nun, erzähl schon weiter!”
„...dann ist er sehr böse. Dann müssen die Kariben ihre Töpfe fortwerfen, ihre Bogen und Pfeile in den Kochfeuern verbrennen, ihre Dörfer verlassen und alles nur Erdenkliche tun, um ihn wieder mit sich zu versöhnen."
„Hier sind drei Pfeile", sagte Sägefisch ruhig. „Was hat es zu bedeuten, wenn er alle drei abschießt?"
„Dann ist es aus mit dem Glück der Kariben", sagte der Gefangene mit vor Schrecken bebender Stimme. „Dann müssen sie alles verlassen, was sie haben, in die Kanus steigen und in ein anderes Land fahren, aus dem sie nie zurückkehren dürfen. Aber selbt Häuptlinge und Medizinmänner wagen von so schrecklichen Dingen kaum zu reden. So etwas ist ja auch noch nie geschehen."
„Bisher nicht", sagte Sägefisch, „aber sei nicht allzu sicher, daß es nicht doch noch geschehen kann."
Er legte den Bogen und die Pfeile in die Futterale zurück und wickelte diese wieder in den bunten Mantel. Dann begann er die Bündel von Bogenholz und Pfeilschäften zu untersuchen, die zu einem großen Haufen aufgeschichtet auf dem Holzgestell lagen.
„Hier sind Waffen für viele Krieger", sagte er bedächtig. „Für weit mehr Krieger, als ich Finger und Zehen habe. Wolltet ihr einen großen Kriegszug unternehmen?"
Der Gefangene zögerte eine Zeitlang, ehe er antwortete.
„Es wird behauptet, die meisten der arowakischen Flüchtlinge aus vielen Dörfern hätten sich am Auslauf des großen Mangrovensees gesammelt", sagte er schließlich. „Manche von uns glauben, sie werden sich zur Wehr setzen, darum müssen alle unsere Krieger gut bewaffnet sein."
„Wann sollte dieser Kriegszug unternommen werden?"
„In zwei Mondzeiten, in der Morgendämmerung nach der Vollmondnacht."
Sägefisch, Adlerauge und Grauer Reiher warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu.
„Da sammeln sich wohl alle karibischen Krieger an der Mündung des Reiherflusses, nur einige Stunden Kanufahrt von dem Mangrovensee entfernt?” fragte Sägefisch.
Der Halbblutjunge nickte. Er wirkte unruhig, glaubte vielleicht schon zuviel gesagt zu haben. Würden ihn die Arowaken jetzt töten, nun, da er keine weiteren Neuigkeiten zu berichten hatte?
„Wir schlagen jetzt hier unser Lager auf", sagte der Häuptling. „Bringt den toten Kariben weg. Grauer Reiher und Adlerauge wechseln sich bei der Bewachung des Gefangenen ab. Da er Gefangene unseres Stammes gut behandelt hat, werden wir dasselbe mit ihm tun. Morgen fahren wir zu unserer Insel zurück. Was wir von dieser Inselgruppe wissen müssen, wissen wir bereits zum Teil, und das übrige können uns Ibis und Schnellfuß erzählen, wenn wir nach Hause kommen."
Früh am nächsten Morgen wurden die toten Kariben begraben. Man konnte kein tiefes Grab ausheben, da die Erdschicht auf der Korallenklippe nur dünn war; aber Schnellfuß kannte eine kleine Höhle auf dem Höhenzug, der sich quer über die Insel erstreckte. In diese Höhle legte man sie und gab ihnen einen Topf, Speise und Feuer mit auf die Reise an den unterirdischen Fluß, jedoch keine Waffen. Sägefisch meinte, es sei besser, wenn sie unbewaffnet blieben, und die anderen stimmten ihm zu. Statt dessen gaben sie ihnen Angelzeug, einige Grabstöcke und etwas Samen mit, damit sie nicht als Bettler ins Land der Geister kamen. Zum Schluß wurden soviel lose Steinblöcke als möglich vor den Eingang der Höhle gewälzt.
Darauf wurden die Kanus beladen, und zwar sowohl das der Arowaken wie auch das von den Kariben eroberte. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang befanden sie sich wieder auf der Heimfahrt.
Der Gefangene, der Haifischzahn hieß, war nicht mehr gebunden, sondern saß unter den anderen und handhabte das Paddel. Er schien sich bereits mit seinem Schicksal ausgesöhnt zu haben, und er hatte ja auch keinen Grund, über schlechte Behandlung zu klagen.