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Feinde hatten sie nicht, und sie wußten nicht einmal, was Krieg war, bis das große Unglück über sie kam.

In letzter Zeit war ein fremder Menschenschlag die Küste entlanggefahren gekommen. Er kam aus dem Osten, und die Bocanás hatten schreckenerregende Gerüchte über diese Menschen vernommen, schon lange, ehe diese da waren.

Sie waren kleiner und dunkler als die Arowaken und paddelten keine Flöße, sondern große Kanus, die aus gehöhlten Baumstämmen angefertigt waren.

Pfeil und Bogen waren ihre hauptsächlichsten Waffen, außerdem hatten sie große, schwertförmige Keulen aus hartem, schwerem Holz, an deren Kanten Reihen von Haifischzähnen saßen.

Man nannte sie das „Keb-Volk" — das „Jaguarvolk" — oder gewöhnlich „Kariben", und sie waren so grundverschieden von den BocanáArowaken, wie man sich nur denken kann.

Trotz allem hätte man diese seltsamen Dinge wohl übersehen und die Neuankömmlinge freundlich aufnehmen können, wenn sie nur sonst einigermaßen manierliche Menschen gewesen wären.

Die Kariben hatten jedoch andere und schwerere Fehler. Sie hielten sich für besser als alle anderen Indianer und waren kriegslüstern und raubgierig. Sie liebten es, Jungen und Mädchen aus anderen Stämmen gefangenzunehmen und zur Sklavenarbeit zu zwingen. Die Ärmsten mußten alle schwereren und unangenehmen Arbeiten verrichten, während ihre Herren nur Krieg führten, auf die Jagd gingen oder faulenzten.

Von Dorf zu Dorf wurde flüsternd weitererzählt, die Kariben hätten außerdem die schauerlichste Angewohnheit, die man sich denken könne. Das Gerücht wollte wissen, daß sie — oder doch wenigstens ihre Medizinmänner — Kannibalen seien und Menschen äßen, obwohl niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob das stimmte.

Sobald die Kariben herausbekommen hatten, wie friedlich und wehrlos die Bocaná-Arowaken waren, überfielen sie ein Dorf nach dem anderen, um zu rauben, zu plündern und Gefangene zu machen.

Der Schrecken vor den Neuankömmlingen verbreitete sich von Flußmündung zu Flußmündung um die ganze Meeresbucht. Bald lebten

die Menschen in den kleinen Küstendörfern in einer furchtbaren Spannung und warteten nur noch darauf, daß die Kariben kommen und sie auffressen würden.

Die Schar auf den Flößen war mit knapper Not einer solchen Räuberbande entronnen, die ihre drei langen Kriegskanus in der Mündung

einer Lagune versteckt hatte — etwa zehn Kilometer von ihrem Dorf entfernt — und dann durch den Uferwald herangeschlichen war, um das Dorf zu umzingeln und unmittelbar vor dem Morgengrauen zu überfallen, wenn alle am tiefsten schliefen.

Hätten sich der Häuptling und Läufer nicht an einem versumpften See im Walde aufgehalten, um nach Sumpfschildkröten zu sehen, und hätten sie die Karibenkrieger nicht zufällig gesehen, als diese sich auf der anderen Seite des Sumpfes in einer langen Reihe durch das Buschwerk bewegten, dann wäre es ihnen wohl übel ergangen.

Sägefisch sandte Läufer sogleich in das Dorf voraus, um die Leute zu warnen, und der Junge rannte wie noch nie in seinem Leben. In größter Eile luden die Männer und Frauen alle unentbehrliche Habe auf ihre Fischerflöße, und als der Häuptling eintraf, konnten sie abfahren.

Drei Nächte und zwei Tage waren sie nun zu den Inseln unterwegs, die einst ein Fischer ihres Stammes entdeckt hatte, als er vom Wind weit auf das Meer hinausgetrieben worden war.

Nach zwei Tagen und Nächten hatte einige von ihnen Zweifel beschlichen, ob es diese Inseln überhaupt gab; aber gestern abend, als die Sonne gerade untergehen wollte, hatten die Indianer sie verschwommen am Horizont entdeckt. Der Medizinmann hatte den Kurs genau nach den Sternen berechnet, und so waren sie die ganze Nacht hindurch weitergepaddelt. Nun, da der Tag anbrach, mußten sie höchstens noch fünf Kilometer zurücklegen.

Der Häuptling erhob sich von seinem Platz.

Er hielt die Hand über die Augen und spähte über die vom Wind gekräuselte Wasserfläche.

„Wir müssen etwas weiter nach Westen steuern", sagte er. „Hier weht nicht nur der Wind, sondern hier ist auch eine Strömung. Seht dort den treibenden Baumstamm, wie er sich von unserm Kurs entfernt hat! Wenn wir zu weit abkommen, werden wir es nicht schaffen, gegen den Strom nach der Insel zu paddeln. Es sind übrigens zwei Inseln. Eine große und eine kleine. Bei der großen handelt es sich wohl um diejenige, die der alte Fischer Ceysén genannt hat. Er behauptete, es gäbe dort Trinkwasser."

Der Medizinmann nickte. „Du hast scharfe Augen, Sägefisch", sagte er. „Es ist gut für uns, daß wir dich als Häuptling haben. Wenn du die Karibenkrieger nicht rechtzeitig entdeckt und nicht Läufer geschickt hättest, um uns zu warnen, dann wäre es uns wahrhaftig übel ergangen. Es ist dein Verdienst, daß wir noch rechtzeitig fliehen konnten." „Mag sein", antwortete der Häuptling mit einer abwehrenden Gebärde. „Aber dann ist es ebenso ein Verdienst des Jungen. Er ist diesmal gerannt wie ein gejagter Hirsch. Vor allem aber sind wir entkommen, weil uns die Feinde nicht in ihren schnellen Kanus angriffen, sondern den Landpfad entlanggelaufen kamen. Wie denkst du, Großvater: dürfen die Kinder und die Paddler jetzt ein wenig Wasser trinken?"

Der Alte sah in einen großen Tonkrug, der dicht neben ihm stand.

In diesem und einem weiteren Krug befand sich der Rest des Süßwassers.

„Alle dürfen Wasser trinken, jeder eine Muschelschale voll", sagte er. „Dann aber wollen wir nicht eher wieder trinken, als bis wir sicher sind, daß es auf einer der Inseln genießbares Wasser gibt." Die meisten hielten die Wasserzuteilung wohl für recht knapp bemessen, aber sie waren gewohnt, nicht unnötig zu jammern und den Klügsten bestimmen zu lassen. Jeder von ihnen trank seine Wasserration sehr langsam, in kleinen Schlucken, und behielt den Rest noch lange im Munde.

Sie feuchteten ihre trocknen Lippen mit der Zunge an, und ihre müden Augen bekamen neues Leben.

Eine der Frauen wollte ihre Ration den Kindern geben, aber der Medizinmann sah es und verbot es ihr.

„Die Kinder brauchen deine Kräfte nötiger als diese Wassertropfen, meine Tochter", sagte er freundlich. Kaurischnecke nickte wortlos und trank den Rest, wobei ihr Tränen in den Augen standen.

Mit frischen Kräften begannen alle in die Richtung zu paddeln, die der Häuptling ihnen wies.

Drei Stunden später waren die Flöße in dem engen Sund zwischen der größeren und der kleineren Insel.

„Wir legen zuerst an der kleinen Insel an," sagte Sägefisch.

„Dort dürfte es wohl kaum Trinkwasser geben?" meinte zweifelnd eine der Frauen.

„Nein, das wohl nicht, aber wir können uns dort überzeugen, ob eine Gefahr lauert. Sobald ihr anderen an Land seid, nehmen Läufer, Stumpfnase und ich das kleinste von den Flößen und paddeln zu der großen Insel hinüber, um nachzuschauen, wie es dort aussieht. Stumpfnase bleibt auf dem Floß und hält es außer Wurfweite vom Ufer, bis wir anderen zurückkommen. Hier auf der kleinen Insel halten Lange Lanze und Fregattvogel Wache. Sollten wir angegriffen werden, dann müßt ihr selbst bestimmen, was ihr tut — ob ihr bleibt und kämpft oder ob ihr auf eine andere Insel zu gelangen sucht. Aber kommt nicht hinüber, um uns zu helfen, was immer auch geschehen mag!"

Man sah es den Männern an, daß sie von seinen letzten Worten nicht erbaut waren, aber sie nickten zustimmend.

Sie zogen die Flöße aufs Ufer. Das kleinste wurde entladen. Hierauf steckten die drei Kundschafter ihre Steinäxte in die Gürtel von Agavenfasern, prüften die Spitzen ihrer Knochendolche, nahmen ihre besten Jagdspeere mit scharfen Knochenspitzen an sich und bestiegen das Floß.

Etwa fünfzig Meter von der großen Insel entfernt stellten sie auf ein Zeichen Sägefischs das Paddeln ein. Lange saßen sie reglos auf dem Floß, spähend und lauschend. Schließlich sagte Sägefisch: „Ich kann nichts Gefährliches sehen oder hören, aber es kann ja trotzdem Gefahr auf der Insel lauern. Setz uns da drüben an der Korallenbank an Land, Stumpfnase, und halte scharf Ausschau, bis wir zurückkommen."