Auf der Heimfahrt geschah nichts Besonderes, höchstens daß im Lauf des Vormittags Wind aufkam. Da waren die Arowaken jedoch schon ziemlich nahe an ihrer heimatlichen Insel angelangt, und nach halbstündigem Paddeln in der immer bewegteren See kamen sie an Land, ehe die Wellen gefährlich hoch gingen.
Sie mußten sich von der Schuld lösen, die sie auf sich geladen hatten, als sie ihre Feinde töteten.
Bei den Arowaken und auch vielen anderen Indianervölkern war das eine sehr ernste Angelegenheit. Es tat nichts zur Sache, daß man in Notwehr gehandelt oder anderen das Leben gerettet hatte. Blutschuld war Blutschuld, und die mußte gesühnt werden.
Zwei volle Wochen durften sie — von den anderen abgesondert — kein Tier essen, sondern lediglich Wurzeln, Blattschößlinge und andere Pflanzengerichte. Glücklicherweise hatten sie in dem eroberten Kanu zwei Körbe voll trocknen Mais gefunden. Sonst wären sie wohl dem Verhungern nahe gewesen.
Sie durften keine Hütte betreten und nur mit ihresgleichen sprechen. Jeden Tag mußten sie im Meer, in Kräutersud, in Rauch und in Süßwasser baden. Außerdem mußten sie die ganze Zeit über zu „den Mächtigen" beten, damit diese sich der Seelen der gefallenen Feinde gut annahmen und sie nicht herumirren ließen.
Es war allgemein verbreiteter Glaube, daß bald ein Unglück geschehen würde, wenn sie dies alles unterließen. Vielleicht würden sonst die Seelen der erschlagenen Feinde zurückkehren und sich rächen, indem sie entweder Krankheiten verursachten oder in wilde Tiere eingingen und ihre Mörder anfielen.
Und das Schlimmste von allem: Es würde lange währen, bis Taj zu seinem Volk zurückkehrte. Denn eines erwarteten die Arowaken ständig voller Ungeduld: die Wiederkehr Tajs. Dann würden aller Kampf und alles Elend ein Ende haben. Alle Menschen würden froh und zufrieden leben, ihren Acker bebauen, fischen, schöne Mäntel und feine Tonkrüge anfertigen und ein gutes Leben führen. Natürlich wollten da alle ihr Bestes tun, daß diese Zeit bald kam. Wer es nicht tat, war ja ein richtiger Dummkopf, und eigentlich sollte man ihn unterweisen und zu dem armen Wicht, der keinen besseren Verstand hatte, besonders gut sein.
Das alles mußte Haifischzahn nun auch lernen. Unter den Kariben war er nicht besonders gut behandelt worden, weil er ihrer Rasse nur halb angehörte. Bei den Arowaken erging es ihm besser, und schon nach kurzer Zeit war er ihnen mehr zugetan als dem Volk seines Vaters.
Die Sühnezeit war zwar recht lang, aber schließlich kam doch der Tag, an dem die Männer den Krug zerschlagen konnten, aus dem sie gegessen hatten — auch das gehörte dazu —, und heimkehren durften. Dort gab man ihnen ihre Waffen zurück, die unterdessen von dem alten Großvater Mummel gereinigt worden waren, indem er sie in Kräutersud gebadet, in Rauch gehängt und mit Gebeten und Beschwörungen besprochen hatte.
Die Pfeile, die die Kariben getötet hatten, wurden jedoch verbrannt, und die Asche schüttete man weit von der Insel entfernt ins Meer, damit sie der Strom vom Aufenthaltsort der Bocaná-Arowaken forttrieb.
Während der ganzen Zeit hatten Steinmesser und seine Gehilfen fleißig an dem großen Kanu gearbeitet. Nun war es endlich fertig und mußte nur noch ein wenig glattgeschliffen werden, ehe man es ins Wasser schob.
Sägefisch, Adlerauge und Grauer Reiher widmeten sich nun wieder dem Kanubau, dem Angeln und dem Fang von Schildkröten. Außerdem fertigten sie aus dem neuen Material Bogen an. Aber jeden Nachmittag verschwanden sie für einige Stunden aus dem Lager. In dem kleinsten Kanu paddelten sie nach Ceysén hinüber, um zu beratschlagen. Stets nahmen sie das große Bündel mit, in dem sich der Bogen des Kriegsgottes befand.
An einem frühen Nachmittag saßen sie im Schatten einiger Saragozabäume und betrachteten den mächtigen Bogen. Adlerauge strengte sich aus Leibeskräften an, ihn zu spannen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Er zog und zerrte, daß ihm der Schweiß vom Leibe rann, bekam jedoch den Strang bestenfalls nur einige Handbreit zurück Dann war seine Kraft erlahmt.
„Für die Arme eines Mannes ist dieser Bogen viel zu groß", sagte er schließlich und legte ihn weg. „Wenn es nicht einmal Sägefisch schafft, ihn zu spannen, dann müssen wir den Versuch wohl aufgeben." Grauer Reiher saß am Boden und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Zu groß für die Arme eines Mannes", sagte er langsam. „Aber vielleicht..."
Plötzlich sprang er auf wie von einer Hornisse gestochen und begann den Strand abzusuchen. Nach einiger Zeit kam er mit einem Stück angetriebenem Holz zurück. Er setzte sich auf die Erde, zog die Knie an das Kinn und begann das Treibholzstück mit ein paar derben Angelschnüren quer über seine Füße zu binden.
„Was ist los?" fragte Adlerauge freundlich. „Hast du den Krampf in den Zehen?"
„Red keinen Unsinn und bring mir den Bogen!" antwortete Grauer Reiher.
Dann legte er sich auf den Rücken, zog die Knie so weit an, wie er konnte, und legte den Bogen quer über seine Fußsohlen. Hierauf packte er den Strang mit beiden Händen in der Mitte und begann die Beine zu strecken. Die Muskeln seiner Arme, Schultern, Waden und Schenkel traten wie Knoten hervor.
Dezimeter um Dezimeter krümmte sich der mächtige Bogen, bis er schließlich richtig gespannt war. Grauer Reiher hielt den Bogen mit den Fußsohlen und den Strang mit den Händen an seinem Kinn.
Er hatte sich und den Bogen des Kriegsgottes in eine neue Waffe verwandelt — in eine gewaltige Armbrust.
„Leg einen Pfeil auf den Strang, das Ende zwischen meine Daumen und die Spitze zwischen meine großen Zehen", keuchte er. „Aber mach schnell, ehe ich loslassen muß."
Adlerauge zog einen von den langen Pfeilen aus dem Futteral und legte ihn nach den Anweisungen seines Kameraden auf den Bogen. Grauer Reiher visierte an dem Pfeilschaft entlang, rückte sich ein wenig zurecht, zielte wieder und rutschte noch etwas zur Seite.
Dann ließ er den Strang los.
Mit scharfem Zischen flog der Riesenpfeil davon und schlug tief in einen fünfzig Schritt entfernten Baumstamm ein.
Der Häuptling und Adlerauge saßen wie versteinert da und starrten ihm nach, als hätten sie ein Wunder gesehen.
Grauer Reiher richtete sich in den Sitz auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Puh — das war anstrengend", sagte er. „Doch nun wissen wir jedenfalls, wie es gemacht wird. Das nächstemal binde ich mir ein Stück Holz unter die Sohlen und befestige den Bogen daran. Er hätte mir ja beinahe die Füße abgerissen."
Sägefisch machte sich auf die Suche nach zwei passenden großen, flachen Holzstücken.
„Jetzt laß es mich mal versuchen", sagte er, als er sie gefunden hatte. Fünf Minuten später saß auch sein Pfeil in dem Baumstamm, einige Handbreit unter dem, den Grauer Reiher abgeschossen hatte. Dann war Adlerauge an der Reihe und erzielte ungefähr das gleiche Ergebnis.
Die drei gingen an den Baum und holten die Pfeile. Dann blieben sie noch eine Zeitlang stehen und sahen sich wortlos an.
„Nun haben wir also herausgefunden, daß man den Bogen benutzen kann", sagte schließlich der Häuptling. „Wir wollen in den nächsten Tagen fleißig üben und prüfen, wie weit wir mit Sicherheit schießen können."
In den nächsten vierzehn Tagen sahen die Bocaná-Arowaken auf der kleinen Insel ihren Häuptling nur selten einmal. Er und seine beiden Begleiter hielten sich meist drüben auf Ceysén auf und beschäftigten sich mit dem Riesenbogen.
Bald stellte sich heraus, daß Sägefisch in dieser neuen Art des Schießens seinen Kameraden überlegen war. Er konnte einen der großen Pfeile mehr als doppelt so weit hinausjagen wie ein Schütze mit einem gewöhnlichen Langbogen.
An dem gleichen Tage, an dem das neue Kanu fertig war, beendeten die drei ihre Übungen.