Der Junge gehorchte ohne Widerrede. Die beiden Kundschafter sprangen ins Wasser, als dieses ihnen nur noch ein kleines Stück über die Knie reichte, und wateten langsam auf das Ufer zu. Sie hielten die Speere wurfbereit.
Währenddessen trieb Stumpfnase das Floß wieder ins tiefere Wasser.
Als der Häuptling und Läufer glücklich an Land waren, verschwanden sie in den Wald und glitten wie zwei Schatten von Baum zu Baum. Ihre nackten Füße bewegten sich fast lautlos.
Zuerst gingen sie ihren Weg gemeinsam, aber als sie die Insel durchquert hatten und am jenseitigen Ufer das Meer durch die Mangrovendickung schimmern sahen, begaben sie sich auf getrennten Wegen zurück. Ungefähr dreißig Schritt hinter dem Uferdickicht bewegten sie sich ganz langsam und wichen oft zur Seite, um sich einen Gegenstand genauer anzusehen.
Eine halbe Stunde später war Sägefisch fast genau wieder an der Stelle, wo sie den Wald erstmalig betreten hatten. Er stand zwischen zwei dicken Baumstämmen verborgen und ließ so etwas wie ein leises Zischeln vernehmen.
Fast im gleichen Augenblick bekam er Antwort. Läufer war ebenfalls zurück.
„Nun, was hast du gesehen?" fragte der Häuptling.
„Keine Spur von Menschen oder gefährlichen Tieren. Keine Schlangen, kein Wild, überhaupt keine Landtiere außer kleinen Eidechsen. Doch Spuren großer Seeschildkröten draußen auf den Sandbänken. Es sieht so aus, als kämen diese in der Nacht dorthin, um ihre Eier zu legen. Ein Teil der Spuren war noch ganz frisch."
Läufer kratzte sich heimlich auf dem Rücken und sagte noch: „Ziemlich viele Moskitos und Sandfliegen."
Sägefisch nickte.
„Ich habe das gleiche gesehen wie du", sagte er, „auch einen kleinen Teich mit Regenwasser zwischen einigen Korallenklippen. Reines, süßes Wasser. Es ist nicht viel, aber es dürfte für uns alle reichen, wenn es hier ebenso oft regnet wie auf dem Festland."
„Du hast das Beste gefunden, Häuptling", sagte Läufer. „Wollen wir nun zurückgehen?"
Gemeinsam wateten sie in das seichte Wasser und winkten Stumpfnase, damit er das Floß näher heranpaddelte.
Von der kleinen Insel her war ein Freudenschrei zu vernehmen.
Es war ja klar, daß keinerlei Gefahr drohte, wenn der Häuptling das Floß bis an den Strand herankommen ließ.
Der Jubel wurde noch lauter, als Sägefisch die Hände wie ein Horn geformt vor den Mund hielt und ein einziges Wort rief: „Ti!" Das bedeutete in der Sprache der Bocaná-Arowaken soviel wie „Süßwasser".
Der alte Großvater Mummet betrat das größte Floß, und ihm folgten die meisten Frauen und Mädchen mit soviel Tonkrügen und Kalebassenflaschen, wie sie nur hatten. Viele Kinder schlossen sich ihnen an, um ihren Durst einmal so richtig zu stillen.
Sägefisch zeigte ihnen den Weg zu dem Süßwasserteich, aber als der Medizinmann ihn erblickte, schüttelte er den Kopf und sagte: „Gut, Häuptling, aber wir müssen mit dem Süßwasser haushalten und unser Essen wenigstens zum Teil in Meerwasser kochen, sonst haben wir vielleicht nicht genug zu trinken, wenn eine lange Trockenzeit eintritt. Und es wird wohl das beste sein, wir bleiben vorerst noch auf der kleinen Insel, denn von ihr aus können wir leicht nach allen Seiten Ausschau halten. Sollten Feinde kommen, dann werden wir sie rechtzeitig sehen und können uns noch in Sicherheit bringen."
Läufer sah den Alten fragend an. Man merkte deutlich, daß er etwas auf dem Herzen hatte.
Jetzt wagte er damit noch nicht herauszurücken, aber als die Frauen mit dem Wasser zurückgefahren waren, näherte er sich zögernd dem Alten.
„Sag doch, Großvater, warum muß denn unser Volk immer vor den Kariben fliehen?" fragte er. „Warum können wir nicht bleiben und kämpfen, so daß ihnen die Lust vergeht, uns zu verfolgen?"
„Du redest, wie du es verstehst, Bürschlein!" fauchte der Alte verdrossen. „Sie haben ihre schnellen Kanus, und wir haben nur Flöße, die sich schwer paddeln lassen. Sie haben Bogen und Pfeile, die auf viel größere Entfernungen töten, als wir den Jagdspeer schleudern können."
Läufer schwieg eine Zeitlang und überlegte.
„Sei mir jetzt bitte nicht böse, Großvater", bat er schließlich. „Ich möchte nur wissen, warum wir nicht auch Kanus und Bogen und Pfeile anfertigen, so daß wir uns verteidigen könnten?"
Der alte Medizinmann setzte eine nachdenkliche Miene auf. Er hielt nicht viel von Veränderungen, sondern sah es am liebsten, wenn alles so blieb, wie er es gewohnt war. Aber gleichzeitig war er gerecht, und er mußte ja zugeben, daß in Läufers Worten viel Vernünftiges lag.
„Kanus vielleicht — könnte sein —, das wäre eine gute Sache — wenn wir nur dahinterkommen würden, wie sie gemacht sind. Aber Bogen und Pfeile? Auf keinen Falll Wir wissen ja nicht einmal, was das für Dinger sind, denn keiner von uns hat sie je aus der Nähe gesehen. Vielleicht können diese nur die bösen Zauberer der Kariben machen. Nein, Taj bewahre uns davor, daß wir uns mit solchen Künsten befassen!"
Läufer gebärdete sich nicht eigensinnig, sondern schwieg und ging seines Weges.
Alten Leuten widersprach man nicht, und erst recht nicht dem Medizinmann. Das war bei den Bocaná-Arowaken nicht üblich und auch bei den anderen Stämmen nicht. Vor allem aber dann nicht, wenn man noch ein Junge war, der noch nicht einmal seinen richtigen Namen bekommen hatte.
Aber denken — das durfte man doch wohl auf jeden Fall? Sich Gedanken über etwas zu machen war übrigens eine der Lieblingsbeschäftigungen Läufers.
Wenn er bloß dahinterkommen könnte, wie die Kariben verfuhren, wenn sie einen Bogen anfertigten! Aber Großvater Mummel hatte schon recht: die Arowaken, die einem Karibenkrieger so nahe gekommen waren, daß sie sehen konnten, wie sein Bogen beschaffen war — die waren nicht zurückgekehrt, um es den anderen zu erzählen.
Das Gerede von der Zauberei nahm Läufer nicht weiter ernst. Natürlich glaubte er an Beschwörungen und Zauberformeln, an Geistertänze und den Tod aus der Ferne. Aber darauf verstanden sich nur große Medizinmänner, und die elenden Kariben konnten ja doch nicht alle Medizinmänner sein!
Soweit war er gerade mit seinen Gedanken gelangt, als er den alten Großvater Mummel nach der kleinen Insel zurückpaddelte.
Als sie getrunken hatten, rief Sägefisch: „Nun machen sich alle daran, etwas zu essen herbeizuschaffen! Die Männer fischen, die Frauen sammeln Muscheln und backen Casabebrot, die Kinder tragen Holz zusammen 1"
Da kam Bewegung in die Indianer. Nun, da sie ihren Durst gelöscht hatten, merkten sie plötzlich, wie hungrig sie nach der langen Fahrt eigentlich waren.
Einige Männer standen bald bis an die Hüften im Wasser und angelten. Ihre Angelhaken bestanden aus Knochen oder Muschelschalen, und die Leinen aus fein gezwirnten Agavenfasern. Als Köder nahmen sie Muscheln oder Krabben, die sie in Tümpeln am Strand gefunden hatten, oder die drolligen Einsiedlerkrebse, die in den Korallenklippen in Löchern lebten.
Die Frauen füllten ihre Körbe mit einer Art der Strombus-Schnecken, die es schon in einer Tiefe von einem Meter zu Hunderten gab. Nachdem sie die Schnecken an Land getragen hatten, zerschlugen sie die Gehäuse mit Keulen und schnitten den Schneckenfuß heraus, der dick und fleischig war. Er wurde alsdann mit Knüppeln mürbe geklopft und lange mit Sorgfalt gewaschen, damit er völlig frei von Sand war. Darauf kochten einige Frauen aus den Schnecken sowie den Bataten und anderen Wurzelknollen, die sie vom Festland mitgebracht hatten, eine Suppe. Sie würzten dieselbe mit getrockneten Kräutern. Andere brieten Fische auf der Glut oder an kleinen Holzspießen, sie räucherten Fische auf Rosten von Zweigen, auf die sie eine Schicht großer Blätter gelegt hatten.