„Wer ist euer Häuptling?" fragte Sägefisch.
„Du bist unser Häuptling, wenn du uns mitnimmst. Wir haben keinen anderen."
Otter nickte zustimmend. Aber Sägefisch sah besorgt nach seinen Männern.
„Wohl brauchen wir Krieger”, sagte er, „aber woher bekommen wir seetüchtige Kanus für all diese Männer?"
„Daran haben wir bereits gedacht", sagte einer der neuangekommenen Arowaken. „Das Dorf, in dem man uns gefangenhielt, liegt nicht weit von hier. Es ist ganz klein, aber es liegen dort drei große Kriegskanus. Wenn einige von deinen Männern mitkommen, können wir sie holen."
Sägefisch schwieg eine Zeitlang und sah bald den einen und bald den anderen seiner Begleiter an.
„Adlerauge", sagte er schließlich, „du bist mein Unterhäuptling und übernimmst den Befehl über diese Männer. Als Begleiter kannst du dir zwei von deinen Freunden aussuchen. Wenn du diese Kanus in Besitz nehmen kannst, dann hast du unserem Volk einen weiteren großen Dienst erwiesen."
„Wie du willst, Häuptling", antwortete Adlerauge ruhig. „Wenn ich den Grauen Reiher und Haifischzahn mitnehmen kann ..."
„Das kannst du. Überlege, was zu tun ist, ich will inzwischen mit Otter reden."
Adlerauge nahm die neuangekommenen Arowaken beiseite und besprach sich lange mit ihnen. Dann trat er vor die Häuptlinge.
„Die Männer haben mir nun geschildert, wo das Dorf liegt", sagte er. „Wenn Otter uns einige Sumpfkanus und einen Führer mitgibt,
dann fahren wir morgen, sobald es hell wird. Gelingt unser Plan, dann warten wir in dem Versteck an der flachen Landzunge auf Sägefisch."
„Wenn ich früher vorbeikomme, lasse ich ein Zeichen zurück, daß ich dagewesen bin", sagte der Häuptling. „Im übrigen tust du, was du für das beste hältst."
Am nächsten Morgen, als es noch dämmrig war, stieß Adlerauges Schar von dem Dorf im Sumpf ab. Sägefisch und seine Krieger wollten am Abend desselben Tages abfahren.
Häuptling Adlerauge
Vier von den langen, schmalen Kanus des Eisvogelvolkes glitten durch den Wald-der-im-tiefen-Wasser-wächst. Sie waren mit bewaffneten Männern besetzt, neun in jedem Kanu.
Adlerauge saß im ersten Boot, Bogen, Pfeile und Bronzeaxt auf dem Schoß. Seine Blicke glitten von Baum zu Baum, von Lichtung zu Lichtung. Hin und wieder wandte er den Kopf, um sich zu überzeugen, ob die Kanus den richtigen Abstand einhielten.
Es konnte eine ganze Stunde vergehen, ohne daß einer der Männer ein Wort sagte. Teils sind die Indianer von Natur schweigsam, teils sind sie gute Jäger, die draußen im Gelände nicht unnötig reden. Zudem glauben sie, daß die Waldgeister die Stille lieben. Will man sich gut mit ihnen stellen, dann schweigt man am besten.
Dies alles bedeutete jedoch nicht, daß Adlerauge keine Mitteilungen mit dem Grauen Reiher austauschen konnte, der im nächsten Kanu saß. Sie konnten sich in der Zeichensprache verständigen. Aber nicht nur sie beide, sondern auch mit den Eisvogelmännern und den Indianern aus den Kalkbergen. Die Zeichensprache war so gut entwickelt, daß man mit Hilfe von Zeichen sogar ganze Geschichten erzählen konnte.
Im Augenblick hatte Adlerauge jedoch an anderes zu denken als an Geschichten. War er doch der Häuptling zahlreicher Krieger — es waren mehr als dreimal soviel, wie er Finger hatte.
Er trug eine große Verantwortung. Wenn sie in einen Hinterhalt gelockt wurden oder auf andere Art ins Unglück gerieten, mußte sich ihr Häuptling sein ganzes Leben lang schämen. Daher hieß es, gut .Ausschau zu halten und den spähenden Blicken nichts entgehen zu lassen.
Dann und wann sah der Häuptling zu einem Spalt in dem Astwerk auf. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Auf den gewundenen Wasserwegen zwischen den Mangroven kam man nur langsam voran. Der wegkundige Führer hatte gesagt, man würde auf festen Boden gelangen, wenn die Sonne in halber Höhe über dem westlichen Horizont stehe, eine kurze Ruhepause zur Mittagszeit einberechnet. Es war jetzt an der Zeit, daß man sich ausruhte.
Vor ihnen erhob sich ein Hügel aus dem dunklen Sumpfwasser, ein langgestreckter Sandrücken, wenigstens zehnmal so hoch wie ein Mann, nicht mit dunklen, knorrigen Mangroven bedeckt, sondern mit stattlichen, geradstämmigen Guayacanbäumen bestanden.
Auf ein Zeichen des Häuptlings hielten die Kanus, während er und die Männer in seinem Kanu auf das Ufer zufuhren.
Adlerauge, Haifischzahn und einer der Krieger von den Kalkbergen nahmen ihre Waffen und gingen schweigend an Land. Dort verteilten sie sich und schlichen spähend den Hügel hinauf und in den Wald hinein.
Erst am anderen Ufer machte der Häuptling halt. Er war eine weite Strecke gegangen, ohne die Spur eines Menschen oder sonst ein Anzeichen zu sehen, das auf eine Gefahr schließen ließ.
Die Pflanzenwelt hatte sich verändert, als sie den Kamm des Hügels überschritten hatten. Hier wuchsen nur noch wenige Mangroven. Statt dessen erstreckte sich hochstämmiger Wald an einigen Stellen fast bis ins Wasser hinein, und auf kleinen Lichtungen zwischen den bewaldeten Landzungen standen Gruppen von mannshohen Grasbüscheln, so dicht und verfilzt, daß man gerade noch hindurchkam.
In diesen Grasbüscheln stieß er auf niedrige Gänge, und in den weichen, feuchten Boden waren viele Spuren von seltsamen Füßen mit drei breiten Zehen und Schwimmhäuten eingedrückt.
Adlerauge sah, daß die Spuren ganz frisch waren, und nickte kurz. Hätte er nur Zeit gehabt, dann wäre hier vielleicht gutes Jagen gewesen. Frisches Fleisch würde gut zum Maisbrot geschmeckt haben. Es raschelte im Gras, irgend etwas bewegte sich den Hügel hinauf. Der Indianer erstarrte zur Bildsäule, den Bogen halb gespannt und einen Pfeil auf der Sehne.
Das Geräusch verstummte. Eine halbe Minute verging.
Dann raschelte es wieder, diesmal war das Geräusch ganz nahe. Ein kleines Rudel seltsamer Tiere kam durch die Grasdickung heraufgetrappelt. Sie glichen am ehesten großen Meerschweinchen mit schweren, unförmigen Köpfen.
Ab und zu blieben sie stehen und sahen sich um, als fühlten sie sich von irgend etwas Gefährlichem verfolgt.
Adlerauge verzog leicht den Mund. Eben noch hatte er sich gewünscht, Zeit zum Jagen zu haben, und schon kam ihm das Wild förmlich entgegengelaufen. Er hatte gesehen, daß es Wasserschweine waren, und wußte, daß sich ihr fettes Fleisch gut essen ließ.
Die drolligen Tiere kamen immer näher.
Der Indianer wartete ruhig. Er wußte, daß die Jäger sagten, es sei schwierig, Wasserschweine zu 'schießen; man müsse sie genau an der richtigen Stelle treffen, damit sie sofort tot waren. Wenn man sie nur verwunde, dann stürzten sie sich kopfüber ins tiefe Wasser, tauchten unter und gingen verloren. Ein totes Wasserschwein sinke im Wasser sogleich nach unten.
Jetzt waren sie nur noch knappe zehn Schritt entfernt. Mit einer weichen, gleichmäßigen Bewegung spannte der Indianer den Bogen. Die Tiere bemerkten die Bewegung und verharrten einen Augenblick unschlüssig.
Im nächsten Augenblick rollte eins von ihnen über den Boden, den langen Pfeil des Arowaken im Herzen. Die anderen fegten durch das Gras davon wie riesige Fußbälle. Lang anhaltendes Plumpsen verkündete, daß sie das Wasser erreicht hatten.
Adlerauge legte einen neuen Pfeil auf die Sehne und zielte auf das gefallene Tier, aber ein Gnadenschuß war unnötig. Das Wasserschwein zuckte noch ein paarmal mit seinen kurzen, kräftigen Beinen, und dann blieb es reglos liegen.